2. Mai 2023

Tag der Pflege 2023

Vier Thesen zur Zukunft der Pflege

Jeder Mensch hat ein Recht, in Würde zu altern. Dazu gehört Pflege, die getragen ist von hoher Qualität und Nächstenliebe. Doch die Branche ist in Personalnot, der Zeit- und Kostendruck wächst: 200.000 Fachkräfte fehlen schon jetzt deutschlandweit, 2035 werden es schon eine halbe Million sein. Zugleich steigt die Zahl der Pflegebedürftigen weiter. Es ist also höchste Zeit zu handeln. Wie das gehen kann, beschreibt Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann.

  • Mehrere junge Pflegekräfte stehen beisammen.
  • Eine Pflegekraft legt ihre Hand auf die einer pflegebedürftigen Seniorin.
  • Ein junger Pfleger steht im Flur einer Einrichtung und verschränkt die Arme.
  • Eine Pflegekraft legt ihren Arm um eine pflegebedürftige Seniorin.

1. Politischer Wille jetzt!

In der Corona-Pandemie hat die Politik entschlossen gehandelt, Expert*innen befragt und neue Lösungen gefunden. Auch auf die Folgen des Kriegs in der Ukraine haben Bund, Länder und Kommunen schnell reagiert, um die Aufnahme von Geflüchteten zu erleichtern und die hohen Energiekosten abzufedern. "Die Krisen der letzten Jahre haben gezeigt: Wenn die Politik will, kann sie liefern", so der theologische Vorstand des Diakonischen Werks Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL), Christian Heine-Göttelmann. "Es ist höchste Zeit, diesen politischen Willen auch für die Pflege in die Tat umzusetzen: Wir müssen die Reformen endlich anpacken und den großen Wurf wagen!" Pflegeleistungen müssen angemessen finanziert und die Pflegeberufe so gestärkt werden.

Der demografische Wandel, die steigende Zahl chronisch kranker Menschen und die zunehmende Komplexität der Pflegeleistungen treffen auf Fachkräfte, die nach zwei Jahren Arbeit unter Pandemiebedingung ausgebrannt sind. "Es reicht nicht, Pflegekräften zu applaudieren", unterstreicht Heine-Göttelmann. "Wir brauchen mehr Respekt und Wertschätzung für diese unverzichtbare Arbeit. Pflege ist wertvoll für unsere Gesellschaft und das muss auch sichtbar sein." Deutlich wird das etwa in besseren Arbeitsbedingungen.

Christian Heine-Göttelmann, Vorstand Diakonie RWL.

Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann. 

2. Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessern

"Pflege ist keine Fließbandarbeit: In unseren diakonischen Einrichtungen pflegen Menschen, die ihr Gegenüber auf Augenhöhe wahrnehmen", sagt Heine-Göttelmann. "Sie begleiten jede*n Pflegebedürftige*n individuell, unterstützen und fördern. Das sind Aufgaben, die ein gutes Gehalt verdienen. Und dafür stehen wir als Diakonie." Fragt man Pflegekräfte nach ihren Forderungen, wünschen sie sich nicht vorrangig mehr Geld. Es geht ihnen vielmehr darum, genug Zeit für die Menschen zu haben, die ihnen anvertraut sind. "Wir brauchen Pflege ohne Zeitdruck, denn es geht um Arbeit mit und an Menschen", fordert der Diakonie RWL-Vorstand. "Unsere Pflegekräfte leisten einen unverzichtbaren Beitrag für unsere Gesellschaft und pflegen mit Leidenschaft: Für andere da sein, ihnen zuhören und beistehen ist für unser Pflegekräfte ein Herzensanliegen." Leider trifft diese Liebe zum Nächsten und Begeisterung für den Beruf oft auf ein System, das unter Zeit- und Kostendruck steht. "Wir müssen endlich die Bedingungen in der Pflege nachhaltig verbessern", fordert Heine-Göttelmann. "Das Personal steht unter einem enormen Druck, der sich auch auf die Psyche niederschlägt."

Denn wenn die Bedingungen nicht deutlich besser werden, droht das Pflegesystem auszubrennen. "Das Pflegesystem ist zu sehr auf Kante genäht und damit anfällig für Ausfälle. Sind Fachkräfte krank, müssen oft Kolleg*innen aus dem verdienten Frei oder Urlaub zurückgerufen werden. Das ist keine Dauerlösung!" Denn wer keine Pause hat, wird selbst anfälliger für Krankheiten oder unzufrieden und verlässt schlimmstenfalls die Branche. Das belegt auch der DAK-Gesundheitsreport 2023: Die Mehrheit der Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenheimen gibt an, ihre Arbeit nur unter großen Anstrengungen zu schaffen. "Die Studie zeigt, wie stark unsere Pflegekräfte belastet sind", sagt Heine-Göttelmann. "Bei unseren Trägern stemmen täglich von Krankheit und Erschöpfung ausgedünnte Teams die Pflegearbeit." Er fordert klare Konzepte für den Ausfall von Personal. Denn ein gesunder Arbeitsplatz stärkt die Zufriedenheit und Widerstandsfähigkeit des Personals. "Die Dienstpläne müssen fair und stabil sein – mit geregeltem Frei und einer durchgängigen Fünf-Tage-Woche." Denn wenn sich die Bedingungen in der Pflege verbessern, können wir verhindern, dass immer mehr Menschen ihrem eigentlichen Traumjob den Rücken kehren – und zusätzliche Pflegekräfte zurückgewinnen, die die Branche bereits verlassen haben.

Mehrere junge Pflegekräfte stehen beisammen.

Pflegekräfte brauchen dringend mehr Kolleginnen und Kollegen. Doch die Suche nach Personal gestaltet sich immer schwieriger.

3. Akademisierung ausbauen, Arbeitsmigration erleichtern

"Ohne mehr Personal geht es nicht", sagt Heine-Göttelmann. "Unsere Pflegekräfte brauchen dringend mehr Kolleginnen und Kollegen. Die diakonischen Träger berichten uns immer wieder, wie umkämpft der Arbeitsmarkt ist – die Suche nach Personal gestaltet sich immer schwieriger." Das neue Pflegeberufegesetz und die generalistische Pflegeausbildung sind erste Schritte in die richtige Richtung, doch sie gehen nicht weit genug: "Um den Pflegeberuf zu stärken, müssen wir die Akademisierung vorantreiben", so Heine-Göttelmann. "Pflege wird immer anspruchsvoller und die Zahl der Hilfsbedürftigen mit komplexen Pflegebedarfen wächst." 

Die Diakonie RWL ruft zugleich die Bundesregierung dazu auf, die Arbeitsmigration zu erleichtern. "Mit Spannung blicken wir auf das von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil geplante neue Zuwanderungsgesetz", so Heine-Göttelmann. Zugleich fordert er ein schnelleres Tempo: "Unsere Mitglieder werben bereits jetzt Fachkräfte und Auszubildende aus dem Ausland an und erzielen damit erste Erfolge. Doch sie berichten auch von den vielen Hürden, gerade bei Arbeitsmigration außerhalb der EU. Das muss schneller, einfacher und effizienter gehen!"

Eine junge Pflegekraft legt ihre Hand auf die einer pflegebedürftigen Seniorin.

Die Pflegebedürftigen sind finanziell sehr stark belastet. Ein Drittel von ihnen ist auf Sozialhilfe angewiesen. 

4. Eigenanteile begrenzen und so Pflegebedürftige entlasten

Die Pflegebedürftigen sind finanziell sehr stark belastet. Ein Drittel von ihnen ist auf Sozialhilfe angewiesen. Schuld daran ist die Finanzierungssystematik der Pflegeversicherung. Diese zahlt die pflegebedingten Kosten nur bis zu einem gedeckelten Betrag. Darüberhinausgehende Pflegekosten müssen die Pflegebedürftigen über einen Eigenanteil aus eigener Tasche bezahlen. "Wir plädieren deshalb für einen Sockel-Spitze-Tausch", so Heine-Göttelmann. "Wir müssen die Pflegeversicherung quasi auf den Kopf stellen." Der Tausch bedeutet, dass die Versicherten einen begrenzten Eigenanteil zahlen und die Pflegekassen die darüberhinausgehenden Pflegekosten tragen, auch wenn diese beispielsweise infolge von Tarifsteigerungen oder mehr Personal steigen.

Angesichts der steigenden Kosten für Lebensmittel und Energie versuchen die Menschen zu sparen, vermehrt auch in der Pflege: Wer etwa Hilfen eines ambulanten Pflegedienstes in Anspruch nimmt, bucht die Kosten einzeln hinzu – oder bestellt sie ab. "Immer häufiger berichten uns Einrichtungen und Träger, dass Pflegebedürftige aufgrund der gestiegenen Kosten auf eigentlich wichtige Leistungen verzichten, weil sie oder ihre Angehörigen diese schlichtweg nicht mehr bezahlen können", so Heine-Göttelmann. Der Diakonie-Vorstand warnt vor den Folgen: "Übernehmen Angehörige die Pflege vermehrt selbst, drohen sie überfordert zu werden. Zugleich sind Hilfsbedürftige, die nicht ausreichend versorgt werden, später stärker auf medizinische Behandlungen angewiesen. Das ist unmenschlich. Und es bedeutet insgesamt höhere Kosten im Krankenhaus oder in der Pflege."

Text: Jana Hofmann, Fotos: Andreas Endermann/Diakonie RWL, Canva (eigene Darstellung Diakonie RWL)

Ihr/e Ansprechpartner/in
Jana Hofmann
Stabsstelle Politik und Kommunikation