18. April 2024

Hephata startet Modellprojekt

Kreativ in der Krise

Menschen mit Behinderungen sind häufig auf Unterstützung angewiesen, damit sie selbstbestimmt am Leben teilhaben können. Aber wie sieht es mit dieser Teilhabe aus, wenn das entsprechende Personal fehlt? Die Evangelische Stiftung Hephata richtet den Blick in die Zukunft und testet mit dem Modellprojekt "Stufe" neue Wege. Die Sozialstiftung NRW, vormals Stiftung Wohlfahrtspflege, fördert das Ganze mit 700.000 Euro.

  • Musiktherapie in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen.
  • Übergabe des Förderbescheids der Sozialstiftung NRW durch den Vorsitzenden Marco Schmitz.
  • Menschen mit Behinderungen können selbständig am Leben teilhaben.
  • Pressetermin zur Übergabe des Förderbescheids der Sozialstiftung NRW.

Für Michael Roos, Projektleiter bei der Evangelischen Stiftung Hephata, sind es "die beiden Zauberwörter in der Eingliederungshilfe": Selbstbestimmung und Teilhabe. "Hier bei Hephata haben wir großartige Mitarbeitende, die ihren Kund*innen genau das ermöglichen wollen." Aber, so Roos weiter, dafür benötigten sie ein geeignetes Setting, sprich: stabile Dienstpläne, ausreichend qualifizierte und engagierte Kolleg*innen sowie eine gute Arbeitsorganisation. Noch habe Hephata genügend Personal, um die Menschen mit Behinderungen zu begleiten. "Aber in akuten Krankheitsphasen besteht bereits heute das Risiko, dass Betreuungssettings überlastet werden, sodass wir auf Zeitarbeitskräfte angewiesen sind oder Kolleg*innen für andere einspringen müssen, was wiederum zu hohen Belastungen führt", berichtet Michael Roos, der seit mehr als zehn Jahren in verschiedenen Leitungsfunktionen in der Eingliederungshilfe tätig ist.

Verena Hölken, Vorständin evangelische Stiftung Hephata.

"Wir werden auf keinen Fall die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen einschränken", betont Hephata-Vorständin Verena Hölken.

Teilhabe garantieren

An Nachwuchs fehle es schon jetzt, und mit der bevorstehenden demografischen Entwicklung, in der viele Fachkräfte in den Ruhestand gehen, werde die Lücke noch größer. Vor diesem Hintergrund, so Roos, stelle sich die Frage, wie bestmögliche Teilhabe selbst mit weniger Personal garantiert werden könne.  Hephata-Vorständin Verena Hölken ergänzt: "Wir wollen und werden auf keinen Fall die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen einschränken. Also müssen wir nach Möglichkeiten suchen, auch mit weniger Fachkräften auszukommen." Das Modellprojekt "Stufe" nimmt daher gleich zwei Dinge in den Blick: Wie können neue Fachkräfte gewonnen und auch gehalten werden? Und parallel dazu: Welche neuartigen Unterstützungsangebote gibt es, die möglicherweise ausgebaut werden können, um die Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen voranzubringen?

Eine Betreuerin und eine Mitarbeiterin in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen.

Beim Modellprojekt "Stufe" können sich alle beteiligen, die es betrifft. Gemeinsam können sie ihren Arbeitsbereich gestalten.

Alle können mitmachen

Am 1. April ist "Stufe" gestartet. Hinter dem Namen verbirgt sich die sperrige Bezeichnung "Handreichung zur Umsetzung einer Selbstbestimmten und Teilhabeorientierten Unterstützung vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels in der Eingliederungshilfe". Dabei will das Projekt genau das nicht sein: sperrig. "Stufe ist partizipativ angelegt und zeichnet sich dadurch aus, dass alle mitmachen können, die es betrifft", erklärt Michael Roos. "Alle können Akteure sein und den Arbeitsbereich mitgestalten, Mitarbeitende ebenso wie die Menschen mit Behinderungen selbst, deren Angehörige und gesetzliche Betreuer*innen." Auf drei Jahre ist das wissenschaftlich begleitete Projekt angelegt. Aber wenn sich bereits vor Ablauf der Zeit eine gute Idee abzeichne, wolle man diese auch schon vorher umsetzen. Roos: "Da werden wir flexibel sein."
       
Doch bevor es so weit ist, müssen erstmal viele Daten zur Personalsituation gesammelt und ausgewertet sowie Interviews geführt werden. Es werden sowohl Mitarbeitende als auch Jugendliche sowie Auszubildende des Hephata-Berufskollegs befragt. Sie sollen erzählen, was sie überhaupt mit dem Begriff Eingliederungshilfe verbinden. Welches Image hat der Beruf? Was müsste passieren, damit sie sich für dieses Arbeitsfeld interessieren?  Wie könnte die Eingliederungshilfe bekannter und attraktiver werden? Welchen Sinn stiftet die Arbeit in diesem Bereich? Wo ist die Belastung besonders hoch?
"Wir setzen darauf, dass alle Beteiligten auch mal 'out of the box' denken und völlig neue Perspektiven einbringen", sagt Michael Roos. Das könnten beispielsweise ungewöhnliche Arbeitsmodelle jenseits der sonst üblichen Schichtdienste sein. Oder eine neu gedachte Arbeitsorganisation: Dokumentationen könnten beispielsweise technisch vereinfacht und administrative Aufgaben wie Dienstpläne erstellen ausgegliedert werden.  

Innovative Unterstützungsangebote können die Arbeit im Bereich Eingliederungshilfe verbessern.

Innovative Unterstützungsangebote könnten künftig verstärkt im Bereich Eingliederungshilfe eingesetzt werden.

Innovative Unterstützung

Auch die Perspektive der Menschen mit Behinderungen ist gefragt. "Dafür suchen wir gerade verschiedene Wohneinheiten aus, deren Kund*innen einen möglichst breiten Querschnitt wiedergeben sollen", so Roos. Alle Akteure in den Organisationseinheiten können aktiv an dem Forschungsprojekt partizipieren: Wie erleben sie die Situation? Wo wünschen sie sich möglicherweise mehr Unterstützung? Was bereitet ihnen Stress? Wie können sie sich selbst bei der Personalsuche einbringen? Auch hier hat Michael Roos schon einige Ideen: Sie könnten beispielsweise selbst Flyer für die Akquise entwerfen oder kleine Videos drehen. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Hospitant*innen nicht vom Personal, sondern von den Kund*innen selbst durch die Räume geführt würden. Roos: "Alles ist möglich."

Zweiter Schwerpunkt der „Stufe“ neben der Fachkräftegewinnung ist der verstärkte Einsatz innovativer Unterstützungsangebote im Bereich Eingliederungshilfe. So könnten beispielsweise Rollladen über Sprachsteuerung bedient oder Texte mit KI in leichte Sprache übersetzt werden. Auch Kommunikationswege ließen sich an einigen Stellen durch Videochat optimieren. „Um uns neue Anregungen zu holen, werden wir demnächst ein assistenzgesteuertes Modellhaus besuchen“, kündigt Roos an. Auch in diesem Bereich sei alles denkbar, was sinnvoll und praxistauglich sei und vor allen Dingen die Teilhabe der Menschen mit Behinderungen voranbringe. „Denn daran müssen wir uns letztlich immer wieder messen lassen.“

Marco Schmitz, Stiftungsratvorsitzender der Sozialstiftung NRW, im Gespräch mit Hephata-Vorständin Verena Hölken. Im Hintergrund Projektleiter Michael Roos.

Sie sind Teil des "Stufe"-Netzwerks: Marco Schmitz, Stiftungsratvorsitzender der Sozialstiftung NRW, im Gespräch mit Hephata-Vorständin Verena Hölken. Im Hintergrund Projektleiter Michael Roos.

Netzwerkarbeit

Das Projekt Stufe stützt sich auf ein Netzwerk: Projektpartner von Hephata ist die Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Kooperationspartner sind der Landschaftsverband Rheinland und das Kompetenzzentrum „Selbstbestimmt Leben Detmold“. Gefördert wird „Stufe“ mit 700.000 Euro von der Sozialstiftung NRW, vormals Stiftung Wohlfahrtspflege NRW. „Die Fachkräftegewinnung im Bereich Eingliederungshilfe wird eine große Herausforderung in der Zukunft“, sagt der Stiftungsratvorsitzende Marco Schmitz. „Wir investieren deshalb gerne in ein solches wissenschaftlich evaluiertes Projekt.“ 

Von den Erkenntnissen soll aber letztlich nicht nur Hephata profitieren.  „Wir möchten die Ideen nachhaltig umsetzen und verbreiten“, betont Michael Roos. „Die Handreichung soll über Hephata und den Bereich Eingliederungshilfe hinaus auch auf andere Träger übertragbar sein und möglichst vielen Akteur*innen neue Impulse geben.“

Text: Verena Bretz, Fotos: Udo Leist/ev. Stiftung Hephata, Shutterstock

Ihr/e Ansprechpartner/in
Pfarrer Ulrich T. Christenn
Zentrum Drittmittel und Fundraising
Weitere Informationen

Jubiläum

Zu ihrem 50. Geburtstag im März 2024 hat sich die Stiftung Wohlfahrtspflege NRW einen neuen Namen geschenkt und heißt nun Sozialstiftung NRW. Bislang hat die Stiftung mit mehr als einer Milliarde Euro rund 8000 Projekte gefördert, die das Ziel haben, soziale Innovationen zu testen und umzusetzen.

Viele dieser Förderungen hat das Zentrum Drittmittel und Fundraising der Diakonie RWL begleitet und Mitgliedseinrichtungen bei der Antragsstellung unterstützt. Diakonie RWL-Vorständin Kirsten Schwenke ist stellvertretendes Mitglied im Stiftungsrat und sagt: "Die Stiftung Wohlfahrtspflege war und ist für uns eine verlässliche Partnerin. Viele innovative Projekte und auch größere sozialpolitische Veränderungen konnten wir in NRW mit dem Geld der Stiftung voranbringen."

Christian Heine-Göttelmann, Vorstand der Diakonie RWL, ist in den Beirat des Projekts "Stufe" berufen worden. Der Projektbeirat trifft sich regelmäßig, erstmals im Juni 2024.