Politik-Talk 113c
Am 1. Juli 2023 tritt der neue Paragraf 113c "Personalbemessung in vollstationären Einrichtungen" in Kraft. Er sieht vor, dass in der stationären Langzeitpflege nicht nur erheblich mehr Personal eingestellt wird, sondern dass dieses Personal auch stärker kompetenzorientiert eingesetzt wird. Mögliche Über- und Unterforderungen im Berufsalltag von Pflegekräften sollen dann Vergangenheit und Dienstpläne endlich verlässlicher sein. Der Beruf soll attraktiver und die Versorgung der betreuten Menschen weiter verbessert werden.
Wie die Umsetzung des neuen Paragrafen möglichst reibungslos gelingen kann, darüber hat Moderator Tom Hegermann beim "Politik-Talk 113c" der Diakonie RWL mit dem Titel "Nach dem Applaus endlich mehr Kolleg*innen?" mit Experten aus Wissenschaft, Pflege und Politik gesprochen. Damit Paragraf 113c tatsächlich ein Erfolg wird, müssen innerhalb der nächsten fünfeinhalb Monate bis zum Start noch drängende Fragen zu den Themen Organisation, Ausbildung und Finanzierung geklärt werden.
"Wer wird uns morgen pflegen, wenn wir nicht mehr so können, wie wir wollen?", fragt Christian Heine-Göttelmann, Vorstand der Diakonie RWL.
"Wer wird uns morgen pflegen?"
Live im Duisburger Studio 47 diskutierten Udo Diel vom NRW-Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS), Professor Dr. Heinz Rothgang vom SOCIUM Forschungszentrum der Universität Bremen, Dr. Martin Schölkopf, digital zugeschaltet aus Berlin vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Marc Schué, Vorsitzender Evangelischer Verband für Altenarbeit (EVA) der Diakonie RWL, und Wilfried Wesemann, Vorsitzender Deutscher Evangelischer Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP).
"Wer wird uns morgen pflegen, wenn wir nicht mehr so können, wie wir wollen?", darum soll es in dem Talk gehen, kündigte Christian Heine-Göttelmann, Vorstand der Diakonie RWL, an. Paragraf 113c biete zum 1. Juli die Chance, mehr Personal zu verhandeln. Und es müsse jetzt darüber gesprochen werden, woher die zusätzlichen Pflegekräfte kommen sollen, wie sie ausgebildet werden, in welchem Personalmix sie eingesetzt werden und was das für die Einrichtungen bedeutet. "Und wir fragen auch, wer das bezahlt", so Heine-Göttelmann.
100.000 Pflegekräfte zusätzlich
Grundlage für die Neuerung im Pflegeversicherungsgesetz ist das sogenannte Rothgang-Gutachten. Wissenschaftler Professor Dr. Heinz Rothgang hat mit seinem Team ein Verfahren für die einheitliche Bemessung des Personalbedarfs in der stationären Langzeitpflege entwickelt. Dafür wurde in ausgewählten Einrichtungen der Arbeitsalltag von Pflegenden in Echtzeit dokumentiert. Rothgang: "Wir haben sie quasi beschattet und minutiös festgehalten, was sie gemacht - aber auch, was sie nicht gemacht haben." Daraus wurden dann die entsprechenden Ist- und Sollwerte ermittelt und anschließend in Personalstellen umgerechnet. Das Ergebnis der Studie: Deutschlandweit werden gut 100.000 Pflegekräfte mehr gebraucht, die bereits ab Juli nach und nach eingestellt werden sollen.
"Das Hauptproblem in der Pflege ist fehlendes Personal", bekräftigt Rothgang. In den Einrichtungen höre man von den Mitarbeitenden weniger Klagen über die Bezahlung, sondern vielmehr über zu wenig Kolleg*innen und daraus folgend eine hohe Arbeitsbelastung und das Problem, dass man nicht so pflegen könne, wie man es gelernt habe. Eine Einschätzung, die Marc Schué vom EVA bestätigt: "Unsere Mitarbeitenden können oft ihre eigenen Qualitätsansprüche nicht erfüllen, weil sie einfach zu wenige sind." Paragraf 113c sei "ein Schritt auf dem Weg, diese Diskrepanz zwischen Realität und Anspruch ein bisschen aufzulösen". Viele Träger freuten sich deshalb, dass sie ab Juli mehr Personal einstellen dürfen. Schué: "Aber gleichzeitig fragen sie sich, woher die Pflegekräfte kommen sollen."
Die Ausbildung für Pflegekräfte ist bundesweit nicht einheitlich geregelt. "Das kann nicht sein und ist auch nicht mehr zeitgemäß", kritisiert Wilfried Wesemann vom DEVAP.
Einheitliche Ausbildung
Hinzu kommt: Mehr Personal allein ist nicht die Lösung, erklärt Rothgang. Vielmehr komme es auf den richtigen Personalmix an. Dafür wurden die Pflegekräfte in der Studie in vier unterschiedliche Qualifikationsniveaus eingeteilt. Von den 100.000 neuen Kolleg*innen sollen die meisten Pflegefachassistenzkräfte mit dem Qualifikationsniveau 3 sein. Allerdings ist es heute schon schwer, genügend Pflegekräfte zu finden. "Der Arbeitsmarkt ist leer, dort sind weder Fachkräfte noch Pflegehelfer*innen zu finden", konstatiert Wilfried Wesemann vom DEVAP. "Demgegenüber steht eine wachsende Zahl an Menschen, die auf Pflege und Assistenz angewiesen sind." Udo Diel vom MAGS kommt ebenfalls zu dem Schluss, "dass wir unbedingt neue Pflegefachassistenzkräfte brauchen". Das Land NRW habe jedoch dafür "alles getan", etwa die Ausbildungskapazitäten ausgeweitet sowie Qualifizierungsmöglichkeiten durchlässiger gemacht. Fachkräfte aus dem Ausland zu holen, sieht er hingegen eher skeptisch: "Was macht das mit den Herkunftsländern, wenn wir die Menschen dort wegholen?"
Um die Ausbildung zu vereinfachen, fordert der DEVAP eine bundesweit einheitliche Ausbildung. "Die Dauer der Ausbildung zur Pflegefachassistenz ist in den Bundesländern unterschiedlich lang. Schon bei einem Umzug von Nordrhein-Westfalen nach Niedersachsen bekommen Pflegekräfte Probleme, das kann nicht sein und ist auch nicht mehr zeitgemäß", kritisiert Wilfried Wesemann. Martin Schölkopf vom BMG: "Die einheitliche Ausbildung ist eine von mehreren Optionen. Da müssen wir abwarten, was die politische Diskussion ergibt."
Aber nicht nur die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt, das Problem Leiharbeit und die unzureichende Ausbildungssituation mit zu wenig Lehrkräften beobachten die Träger mit Sorge. Auch die Finanzierung beim Umsetzen des neuen Paragrafen sei noch nicht eindeutig geklärt. Dazu erklärt Martin Schölkopf: "Die Pflegekassen haben ausdrücklich zugesagt, dass sie die Umsetzung unterstützen." Bei Problemen bittet er um Rückmeldung an das BMG.
Marc Schué vom Evangelischen Verband für Altenarbeit der Diakonie RWL hofft, dass sich der Übergangsprozess möglichst pragmatisch und unbürokratisch regeln lässt.
Hohe Motivation in den Einrichtungen
Eine weitere unbeantwortete Frage im Zusammenhang mit 113c: Wie sollen die einzelnen Einrichtungen ihren idealen Personalmix erreichen? Erst recht vor dem Hintergrund, dass sie dabei laut Gesetz bestimmte qualitative und quantitative Maßstäbe einhalten sollen. "Der traditionelle Aufbau in den Einrichtungen muss sich ändern", beschreibt Marc Schué die Situation. "Jede Einrichtung muss sich individuell neu aufstellen, beim Gestalten brauchen wir daher unbedingt Spielräume." Er hofft, dass sich der Übergangsprozess möglichst pragmatisch und unbürokratisch regeln lässt.
Heinz Rothgang sichert den Einrichtungen entsprechendes Handwerkszeug bei der Organisationsentwicklung zu - allerdings nicht rechtzeitig bis Juli. Sein Rat: "Zuerst sollten sich alle Einrichtungen einen Überblick über ihren Ist-Zustand verschaffen und dann überlegen, wer was am besten machen kann und sollte." Für diesen herausfordernden und aufwändigen Prozess sehen Marc Schué und Wilfried Wesemann in den Einrichtungen "trotz aller Belastungen eine hohe Bereitschaft und Motivation". Schließlich sorge eine kompetenzorientierte Aufgabenverteilung dafür, "dass letztlich alle Mitarbeitenden in ihren Bereichen Spaß haben" und die hohe Fluktuation ein Ende habe. Auch die Vertreter aus den beiden Ministerien in der Diskussionsrunde betrachten den Paragrafen 113c trotz aller Herausforderungen als eine "Chance zur Weiterentwicklung", und Udo Diel sagt zu: "Wir müssen die Einrichtungen in diesem Umsetzungsprozess unterstützen und begleiten."
Moderator Tom Hegermann führte durch die Diskussion mit Fachleuten aus Pflege, Wissenschaft und Politik.
Eigenanteile sind hoch
Weniger Einigkeit in der Runde gibt es beim Thema Finanzen. 100.000 zusätzliche Pflegkräfte müssen bezahlt werden. Weil die Erstattungen der Pflegeversicherung gedeckelt sind, müssen die Pflegebedürftigen zuschießen. Doch deren Eigenanteile an den pflegebedingten Kosten sind heute schon sehr hoch. Aus der Praxis berichtet Marc Schué: "Ein Kundenproblem haben wir nicht, die Anfragen in den Einrichtungen sind konstant hoch. Auch weil viele an diesem Punkt gar nicht mehr die Wahl haben, ob sie ins Heim gehen oder nicht." Oft seien die Menschen jedoch erstaunt über die hohen Kosten. "Wir müssen deshalb häufig auf die Sozialhilfeträger verweisen."
"Das Hauptproblem in der Pflege ist fehlendes Personal", sagt Professor Heinz Rothgang. Gemeinsam mit seinem Team hat er ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs entwickelt.
Umfassende Pflegereform
Um die Verlässlichkeit der Pflege zu gewährleisten, fordert der DEVAP eine zeitnahe und umfassende Pflegereform. Kernpunkt dabei ist der "Sockel-Spitze-Tausch". Der besagt, dass Versicherte einen begrenzten, verlässlichen Eigenanteil bezahlen und die Pflegekassen die Pflegekosten vollständig übernehmen, auch wenn diese steigen. Professor Heinz Rothgang sieht den Sockel-Spitze-Tausch ebenfalls als einzige nachhaltige Option, um das Finanzierungsproblem in der Pflege dauerhaft zu lösen: "Wenn wir die Eigenanteile nicht begrenzen, werden wir auch die dringend notwendigen Änderungen hin zu mehr Personal nicht umsetzen können."
Widerspruch kommt von Udo Diel: "Wir brauchen keinen Sockel-Spitze-Tausch. Wir brauchen eine Diskussion darüber, was uns Pflege wert ist." Sein Kollege Dr. Schölkopf aus dem Bund sagt sogar: "Wir sollten aufhören, uns über Mythen zu unterhalten." Obwohl der Sockel-Spitze-Tausch noch als eine von mehreren Möglichkeiten in der Diskussion sei, erklärt er: "Die Vorstellung, dass allein der Tausch den Eigenanteil auf Dauer begrenzt, teile ich nicht." Das Thema Finanzierung und eine Reform der Pflegeversicherung werden auf jeden Fall auf der Tagesordnung bleiben.
Text: Verena Bretz, Fotos: Diakonie RWL