11. Juni 2021

Lust auf soziale Berufe

Ein Tag in der Bahnhofsmission

Überraschend, vielfältig und herausfordernd: So hatte sich Sandra Dausend ihren Traumjob vorgestellt. Und deshalb daran gedacht, Stewardess zu werden. Jetzt hilft sie Reisenden und Menschen, die sich keine Reise leisten können. Die 30-jährige Sozialarbeiterin leitet die Bahnhofsmission Essen. Mit Engagement und Herzblut.

  • Sandra Dausend, Leiterin der Bahnhofsmission Essen (Foto: Bahnhofsmission Essen)
  • Team der Bahnhofsmission Essen (Foto: Bahnhofsmission Essen)
  • Gebäude der Bahnhofsmission Essen (Foto: Bahnhofsmission Essen)
  • Infografik zum Beruf der Sozialarbeiterin (Herbst/Diakonie RWL)

Auf dem Junggesellenabschied einer guten Freundin tauchte neulich eine Kiste auf, in der wir mit 13 Jahren unsere Träume gesammelt hatten. Und da war er noch: der Zettel, auf dem ich notiert hatte, dass ich unbedingt Stewardess werden wollte. Jetzt reise ich zwar nicht um die Welt, aber als Leiterin der Bahnhofsmission Essen habe ich viel mit Reisenden zu tun. Den Job mache ich seit April 2020.

Mit einem Team von knapp 50 ehrenamtlich Mitarbeitenden, drei studentischen Hilfskräften und zwei Leiterinnen sind wir täglich von 9 bis 22 Uhr und samstags von 11 bis 17 Uhr für alle Menschen da, die Hilfe benötigen. Entweder beim Reisen oder weil sie am Bahnhof gestrandet sind. Wir haben mit wohnungslosen, psychisch kranken, einsamen, geflüchteten, jungen und alten Menschen zu tun. Eigentlich mit allen sozialen Schichten und Typen, die man sich vorstellen kann. Genau das finde ich an meinem Beruf so schön. Kein Tag ist in der Bahnhofsmission gleich.

Sandra Dausend, Leiterin der Bahnhofsmission Essen, am Schreibtisch (Foto: Bahnhofsmission Essen)

Computer, Kaffee und Stille: Sandra Dausend genießt es, morgens Ruhe für die Büroarbeit zu haben.

Allein mit Computer und Kaffee

Ich mache gerne die Früh- und meine Kollegin die Spätschichten. Da ergänzen wir uns also prima. Um 7.30 Uhr schließe ich unsere Bahnhofsmission auf. Unten ist ein Aufenthaltsraum, in dem bis zu 15 Menschen sitzen können, eine Kleiderkammer und ein Beratungszimmer. Oben haben wir dann noch eine Küche, einen kleineren Aufenthaltsraum für Reisende und unser Büro.

Dort setze ich mich bis 9 Uhr an den Computer, schaue mir die Übergabenotizen meiner Kollegin an, beantworte Mails, kümmere mich um Spendengelder, Konzepte für besondere Projekte, Fortbildungen für die ehrenamtlichen Mitarbeitenden oder organisiere unsere Reisehilfen. Nebenbei koche ich schon mal Kaffee für die Besprechung mit unserer Frühschicht, die von 9 bis 9.30 Uhr stattfindet. 

In der Pandemie dürfen aufgrund der Hygienebestimmungen nur fünf Mitarbeitende gleichzeitig im Dienst sein. Sonst sind es eher bis zu acht. Wir besprechen, was am Tag zuvor passiert ist und teilen auf, wer das "Präsenzlaufen" am Bahnhof übernimmt, wer sich um Reisehilfen für Menschen mit Behinderung oder ältere Reisende kümmert und wer in unserem Aufenthaltsraum bleibt, um dort Kaffee und Gebäck auszuteilen und unsere Gäste zu betreuen.

Sandra Dausend, Leiterin der Bahnhofsmission Essen, schenkt Kaffee aus (Foto: Bahnhofsmission Essen)

Eine Tasse To Go: Manchmal hilft Sandra Dausend auch mit, den Gästen Kaffee auszuschenken.

Anstehen für Kaffee und Brötchen

Wenn wir um 9.30 Uhr öffnen, stehen schon Menschen vor der Tür. Da wir derzeit nur vier Gäste haben dürfen, geben wir den anderen an zwei Tagen in der Woche einen "Kaffee to go" und belegte Brötchen. Eigentlich gehört die Ausgabe von Essen nicht zum Konzept der Bahnhofsmission. Doch wir erleben in dieser Pandemie immer wieder Menschen, die zu uns kommen, weil sie Hunger haben. 

In der Bahnhofsmission verstehen wir uns als eine Art "Erste-Hilfe-Station" für Menschen in Not. Sie können sich bei uns aufwärmen, erhalten aber vor allem "Erste Hilfe" für ihre vielfältigen Probleme. Wir hören zu, unterstützen bei allen möglichen Anträgen, die Behörden verlangen, und vermitteln unsere Gäste an die verschiedensten sozialen Beratungsstellen in unserer Stadt. 

Zwei Mitarbeitende der Bahnhofsmission sind auf der Rolltreppe von hinten zu sehen (Foto: Bahnhofsmission Essen)

Zu den Menschen kommen: Meistens sind die Teams zu zweit im Bahnhof unterwegs.

Schulen, beraten, Krisenfälle managen

Unsere Ehrenamtlichen sind gut geschult. Einige kennen sich auch deshalb gut aus, weil sie im Jobcenter, Jugendamt oder der Flüchtlingsberatung arbeiten. Außerdem sprechen wir im Team verschiedene Sprachen, was uns in der Beratung von Migranten und Geflüchteten sehr hilft. Unter unseren Ehrenamtlichen befinden sich drei Menschen mit Handicap, die wir für die Reisehilfe einsetzen. Sie sind ein echter Gewinn für unser Team, weil sie freundlich und geduldig sind und sich ganz hervorragend mit den Fahrplänen auskennen. 

Mein Job ist es, das Team bei der vielfältigen Arbeit zu unterstützen. Die Tür zum Büro steht immer offen. Oft schaue ich aber auch einfach im Aufenthaltsraum vorbei. In Krisenfällen, die komplex sind und eine intensive Beratung erfordern, bin ich gefragt. Neulich hatten wir zum Beispiel eine junge Frau aus Afghanistan, die zwangsverheiratet werden sollte, und vor ihrer Familie geflohen ist. Wir konnten ihr zum Glück dabei helfen, einen Platz in einem Frauenhaus zu finden.

Zwischen 12 und 12.30 Uhr essen wir, sofern der Dienst es zulässt, als Team zusammen Mittag. Wenn es ruhig ist, kochen wir sogar etwas. Um 14.30 Uhr schließen wir den Beratungsraum, um in Zweierteams noch bis etwa 16 Uhr rund um den Bahnhof als "Streetworker" unterwegs zu sein. Wir haben Rucksäcke mit Getränken und Essen dabei.

Sandra Dausend, Leiterin der Bahnhofsmission Essen (Foto: Bahnhofsmission Essen)

Unterwegs in "zivil": Wenn Sandra Dausend rund um den Bahnhof unterwegs ist, lässt sie ihre blaue Weste im Schrank.

Als Streetworkerin am Bahnhof 
Diesen Teil meiner Arbeit mag ich besonders. Schon während meines Studiums der sozialen Arbeit an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum war ich als ehrenamtliche Streetworkerin für die Bahnhofsmission Essen tätig. Ich bin zweimal in der Woche unterwegs gewesen, um mich um Stricher und wohnungslose Jugendliche zu kümmern.

Es ist nicht immer einfach, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Aber wenn es mir gelingt, erlebe ich ganz viel Offenheit und Dankbarkeit. Nach meiner Schicht fahre ich meistens gegen 16.30 Uhr mit einem guten Gefühl nach Hause. Eine schönere soziale Arbeit kann ich mir nicht vorstellen. Als Stewardess hätte ich diese Vielfalt an Menschen und Schicksalen nie erlebt. Und sicher auch nicht so ein tolles Team gehabt, das freiwillig und mit ganz viel Herzblut für die Menschen da ist.

Protokoll: Sabine Damaschke, Fotos: Bahnhofsmission Essen, Christoph Bürgener

Ihr/e Ansprechpartner/in
Karen Sommer-Loeffen
Geschäftsfeld Krankenhaus und Gesundheit
Weitere Informationen

Im Gebiet der Diakonie RWL gibt es 24 Bahnhofsmissionen, die jährlich fast 1,7 Millionen Menschen unterstützen.  Viele Bahnhofsmissionen befinden sich in gemeinsamer Trägerschaft von Diakonie und Caritas und haben ein bis zwei hauptamtliche Leitungen – meist Sozialarbeiterinnen. Die anderen Mitarbeitenden engagieren sich dort ehrenamtlich. Eine gesicherte Regelfinanzierung gibt es nicht, so dass die Spendenaquise eine wichtige Rolle spielt.

Die erste Bahnhofsmission wurde 1894 am Berliner Ostbahnhof eröffnet. Junge Frauen, die vom Land in die Städte zogen, sollten vor Ausbeutung und Zwangsprostitution geschützt werden. An fast allen wichtigen Knotenpunkten des Schienennetzes gründeten sich in den folgenden Jahren Bahnhofsmissionen. Heute gibt es bundesweit 104 Bahnhofsmissionen.