Tag der Pflege 2023
Neues Land, neuer Job, neues Leben: 15 Stunden Reise liegen hinter Medine Barlas, als sie in ihrem neuen Zuhause in Ostwestfalen ankommt – von Ankara über Istanbul nach Hannover und schließlich nach Wewer, einem Ortsteil von Paderborn. Zwei Tage später sitzt sie bereits im Unterricht in der Pflegeschule in Blomberg. Die 29-Jährige hat als eine von insgesamt 19 Türkinnen und Türken ihre dreijährige Ausbildung zur Pflegefachfrau beim Evangelischen Johanneswerk begonnen.
Der diakonische Träger sucht neue Wege, junge Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern. Denn der große Arbeitgeber mit rund 7.000 Mitarbeitenden in ganz Nordrhein-Westfalen spürt wie alle in der Branche den Fachkräftemangel. "Das Anwerben von Personal aus dem Ausland ist eine zusätzliche Strategie", sagt Henning Cramer, der beim Evangelischen Johanneswerk das Projekt "Zukunftswerk Leben und Gesundheit" leitet. Wie groß der Personalbedarf genau sein wird, kann der promovierte Gesundheits- und Pflegewissenschaftler noch nicht abschätzen. "In den kommenden zehn Jahren gehen im Johanneswerk über 1.000 Pflegekräfte in Rente. Hinzu kommt ein wachsender Bedarf an Pflegeleistungen aufgrund des demografischen Wandels."
50 Azubis aus der Türkei pro Jahr
Ein Teil der Lösung ist das Modellprojekt, für das über vier Jahre insgesamt 180 Auszubildende aus der Türkei angeworben werden. Dafür kooperiert das Johanneswerk mit dem türkischen Verein Asya Avrupa Eğitim Araştırma Derneği (ASAVDER). "Wir rechnen jedes Jahr mit 50 Auszubildenden", erklärt Cramer. Der nächste Kurs startet im Herbst. Die angehenden Pflegefachkräfte besuchen entweder die Schule in Bielefeld oder Blomberg, 22 Einrichtungen des Johanneswerks beteiligen sich. Der Europäische Sozialfonds (ESF) und das Landesgesundheitsministerium fördern das Projekt.
Vier Jahre lang bessern die Wissenschaftler*innen und Expert*innen die Ausbildung und Integration Schritt für Schritt nach, 2026 soll dann ein Leitfaden zur Integration von Mitarbeitenden veröffentlicht werden. "Wir wollen unsere Erfahrungen auch anderen Trägern und Unternehmen zur Verfügung stellen", erklärt Cramer. Dabei soll es auch um Themen wie Karriereplanung oder den Umgang mit einem möglichen Abbruch der Ausbildung gehen.
Wissenschaftler Henning Cramer leitet das Projekt beim Johanneswerk.
Weg zum Integrationsprofi
Das Johanneswerk greift auf einen großen Erfahrungsschatz in der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund zurück. "Bei uns arbeiten 75 unterschiedliche Nationalitäten", sagt Cramer. "Wir können unsere Arbeit auf viele gelungene Geschichten von Integration aufbauen." Integration soll wie selbstverständlich als Prozess in allen Bereichen mitlaufen. "Wir wollen Integrationsprofi werden", betont Cramer. Dabei greift das Sozialunternehmen auf einen großen Pool an eigenen Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis zurück.
"Wir wollen die Kooperation mit der Türkei dauerhaft aufbauen und eine verlässliche Maßnahme zur Personalgewinnung etablieren", sagt Cramer. Im Modellprojekt liegt der Fokus nicht nur auf Schule und Ausbildung, sondern auch auf dem Sozialraum – angefangen von der Wohnung und Anmeldung in Deutschland, gefolgt von der sozialen Integration in Vereine, ihre Nachbarschaft und das alltägliche Leben. "Wir wollen, dass sich unsere Auszubildenden hier wohlfühlen und langfristig in Deutschland bleiben", betont Cramer. "Wir hoffen, dass sie nach der Ausbildung dem Johanneswerk und der Pflege in Deutschland erhalten bleiben."
Traumjob in OWL
Medine Barlas erfuhr von einer Freundin von dem Projekt. Sie überlegte sich gründlich, ob sie den Schritt wirklich wagen möchte, doch dann zögerte sie nicht: "Ich wollte immer ins Ausland gehen", erzählt die 29-Jährige. "Ich lerne gerne und möchte immer dazulernen." Mit der Ausbildung kann sie sich diesen Traum erfüllen – gemeinsam mit ihrer Freundin, die nun ebenfalls beim Johanneswerk arbeitet. "Ich bin sehr glücklich, dass das geklappt hat", sagt Medine Barlas. "Ich liebe es, Menschen zu helfen. Der Pflegeberuf ist sehr vielfältig und interessant."
In Ankara hat Medine Barlas schon im sozialen Bereich gearbeitet – als Kindergärtnerin. In der Türkei ist das ein Beruf, für den ein Studium notwendig ist. Sie bringt also gute Grundlagen mit: "Ich habe schon die Anatomie und Physiologie von Kindern studiert", berichtet sie. Nun vertieft sie ihr Wissen, denn zur generalistischen Pflegeausbildung gehört die Kinderheilkunde. "Ob ich Babys und Kindern helfe oder älteren Menschen macht für mich keinen Unterschied", sagt Medine Barlas. "Sie alle brauchen Pflege und Hilfe von anderen Menschen."
Medine Barlas freut sich darauf, Neues zu lernen.
Unterstützung beim Ankommen
Damit die Ankunft reibungsloser läuft, unterstützt das Johanneswerk seine türkischen Auszubildenden mit einem eigenen Integrationsbeauftragten, der fließend auf Deutsch und Türkisch beistehen kann. Er begleitet die Azubis unter anderem bei Behördengängen. Auch um die Unterbringung und den Weg zu Schule und Ausbildungsort kümmert sich der Arbeitgeber: "Das Johanneswerk stellt mir ein Auto zur Verfügung", sagt Medine Barlas. "Dafür bin ich sehr dankbar. Das Johanneswerk hat mir so viel geholfen: Bei der Wohnung, den Möbeln." Medine Barlas spricht auch regelmäßig mit ihrer Chefin. Die Leiterin des ambulanten Pflegedienstes in Bad Driburg, bei dem sie den praktischen Teil ihrer Ausbildung absolviert, hilft ihr dabei, eine Wohnung in der Nähe von Schule und Ausbildungsort zu finden.
Medine Barlas Alltag ist im Moment vor allem von der Pflegeschule Lippe in Blomberg geprägt, zu der sie fast eine Stunde mit dem Auto fährt. Ihr Kurs besteht aus 21 Auszubildenden, von denen neun wie sie aus der Türkei kommen. Schulleiterin Gabriele Schütter berichtet: "Zum Einstieg hatten unsere türkischen Schülerinnen und Schüler viele Herausforderungen zu meistern, was ihnen sehr gut gelungen ist." Die türkischen und deutschen Azubis arbeiteten gut zusammen, für gemeinsame Arbeiten würden die Gruppen immer wieder durchmischt, um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. "Die Lehrenden melden mir nur Gutes zurück, und der Kurs macht auf mich einen sehr positiven Eindruck", sagt die Schulleiterin. Bis zum ersten Praxisblock Mitte Juni stehen die Grundlagen auf dem Stundenplan: Anatomie, Physiologie, Erste Hilfe und erste Erfahrungen in der Grundpflege.
Die Klasse von Medine Barlas besteht aus 21 Pflegeschüler*innen. Neun von ihnen kommen aus der Türkei.
Zoomen gegen Heimweh
Deutschland und die Türkei unterscheiden sich für Medine Barlas vor allem im Wetter: "Es regnet hier sehr viel. In der Türkei wäre es jetzt sehr heiß", sagt sie. "Aber ich liebe kaltes Wetter." Kulturelle Unterschiede sind ihr noch nicht groß aufgefallen. "Mit der Sprache klappt es auch immer besser", freut sich die 29-Jährige. In der Türkei erreichte sie nach nur neun Monaten das B2-Niveau, das für die Pflegeausbildung benötigt wird. "Wir möchten hier in Harmonie leben und arbeiten", sagt sie. "Deshalb möchte ich mein Deutsch noch weiter verbessern."
Schwer fiel ihr, ihre Familie zurückzulassen: "In Ankara habe ich mit meiner Schwester, meiner Mutter und meiner Katze zusammengelebt. Ich vermisse sie", erzählt sie. "Ich habe aber eine gute Internetverbindung und kann mit meiner Familie sprechen oder Video-Calls machen." Ihre Zukunft sieht sie in Deutschland, auch wenn sie ihre Familie vermisst. "Ich möchte sehr gerne hierbleiben und auch nach der Ausbildung für das Johanneswerk arbeiten", sagt Medine Barlas. "Ich möchte mir hier ein Leben aufbauen."
Mitte Juni beginnt der erste praktische Teil, und Medine Barlas arbeitet längere Zeit in ihrem ambulanten Pflegedienst. "Ich freue mich schon sehr darauf, meine Kolleginnen und Kollegen kennenzulernen und die älteren Menschen zu treffen", erzählt sie. "Es wird alles sehr schön sein!"
Text: Jana Hofmann, Fotos: Gabriele Schütter/Privat/Shutterstock
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