Fachtagung für Haupt- und Ehrenamtliche im Justizvollzug NRW
Zweimal im Monat passiert Andreas Werner die Sicherheitsschleuse in der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Werl. Er gibt Ausweis und Wertsachen am Eingang ab, lässt sie wie alle anderen Besucher von den Beamten des Justizvollzugs durchsuchen und nimmt in einem Besuchsraum Platz. "Dann höre ich vor allem zu", sagt er. Andreas Werner ist als Ehrenamtlicher im Justizvollzug im Einsatz: Er besucht straffällig gewordene Menschen hinter den Mauern des Gefängnisses. Seit 18 Jahren ist er dabei – aus Überzeugung. "Ich habe schnell entdeckt: Inhaftierte sind Menschen wie wir alle anderen auch", sagt er. Während der Haft allerdings fehle vielen von ihnen der Kontakt nach "draußen". Freunde hätten sich abgewendet, Familie gebe es oft gar nicht mehr. "Ich merke dann, wie wichtig den Menschen dieser Kontakt mit mir und der Außenwelt ist", sagt Andreas Werner. Er bringe viel von sich selber mit – aus seinem Leben, seinem Alltag und seiner eigenen Suchtgeschichte. "Vor allem höre ich aber zu", sagt er. Davon berichteten jetzt auf einer Fachtagung für Haupt- und Ehrenamtliche im Justizvollzug NRW viele Freiwillige – vom Zuhören und Wertschätzen, vom Überwinden gedanklicher und realer Mauern.
Die Organisator*innen: Heike Moerland (Diakonie RWL), Gisela Egerding (JVA Aachen), Gaby Steinborn-Reif (JVA Siegburg), Dietmar Landscheidt (Ehrenamtlicher), Veronika Schauß (Justizministerium NRW), Benjamin Heger (Fachbereich Sozialdienst der Justiz NRW), Kristin Franke (Justizministerium NRW).
Einsichten gewinnen
Die Landeskoordinierungsstelle für das Ehrenamt in der Straffälligenhilfe, die bei der Diakonie RWL angegliedert ist, hatte Ehrenamtliche und Hauptamtliche des Justizvollzugs in NRW zwei Tage lang zur Begegnung eingeladen. "Als landesweite Koordinierungsstelle für die ehrenamtliche Arbeit in der Straffälligenhilfe verstehen wir es als unsere Aufgabe, beide Seiten zusammenzubringen", erklärt Heike Moerland, Leiterin der Koordinierungsstelle und bei der Diakonie RWL zuständig für das Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration. Wer ins Gespräch komme und auch mal andere Perspektiven wage, könne neue Einsichten gewinnen und voneinander lernen.
Dr. Barbara Sieferle hat die gesellschaftliche Verurteilung Inhaftierter und deren Folgen untersucht.
Kriminelle als „die Anderen“
Die Fachtagung bot viel Raum für Begegnung, Gespräch und Arbeitsgruppen – und für Impulsvorträge, die zur Reflexion und zum Austausch einluden. Dazu gehörte auch der Vortrag von Dr. Barbara Sieferle, Ethnologin und Kulturanthropologin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sie nahm die Zuhörerinnen und Zuhörer mit in ihre Studie "‚Der Kriminelle‘ – oder: Wie das Gefängnis Menschen als ‚die Anderen‘ der Gesellschaft markiert".
Über Jahre hatte die Wissenschaftlerin straffällig gewordene Männer begleitet – in der Haft und nach der Haftentlassung. Sie hatte sich auf die Suche nach gesellschaftlichen Verurteilungen gemacht und deren Folgen für straffällig gewordene Menschen und ihre Resozialisierung. Die Wissenschaftlerin berichtete in ihrem Vortrag von Daniel, der sich nach der Haftentlassung der Unsicherheit vieler seiner Gesprächspartner völlig bewusst war. "Ich beiße nicht", erklärte er beim ersten Besuch der Wissenschaftlerin in seiner Wohnung. Und sie habe festgestellt, wirklich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch am Tisch zu sitzen. "Es wirkte das Konzept der kriminellen Persönlichkeit", erklärte Dr. Sieferle. Die Gewalttat, die lange in der Vergangenheit liege, werde mit der Persönlichkeit eines Menschen gleichgesetzt. Und sie berichtete von Häftling Ali, der sich im Gespräch im Gefängnis deutlich von "den anderen Häftlingen" distanzierte. "In einem System, in dem Häftlinge jeden Tag als der ‚unmoralische Andere‘ markiert werden, ist der Druck groß, ein moralisches Selbstbild zu konzipieren", befand die Anthropologin.
Die Anthropologin Sieferle stellt eine entscheidene Frage: Wie können Menschen wieder Teil der Gesellschaft werden, wenn sie Jahre lang aus dieser ausgeschlossen wurden?
Teil der Gesellschaft
Und dann nahm Barbara Sieferle in einem dritten Beispiel Männer in einer Anlaufstelle der Straffälligenhilfe in den Blick – und ihre deutliche Distanzierung von möglichen Sexualstraftätern. Sie stellte zwei verschiedene Konzeptionen von Moral vor, die sich häufig begegnen würden: Die erste gehe davon aus, dass die Straftat Ausdruck des Charakters eines Menschen sei. Die zweite lehne eine moralische Vorverurteilung der gesamten Person ab. Sie könne diese moralische Ambivalenz nicht auflösen, erklärte sie.
Aber sie könne ihre Beobachtungen schildern. Und dazu gehörte auch das Fazit: "Menschen haben nach der Haft häufig Probleme auf dem Wohnungsmarkt und Schwierigkeiten, Beziehungen aufzubauen", befand Dr. Barbara Sieferle. "Wir müssen uns also fragen: Wie kann ich einen Menschen dazu befähigen, Teil der Gesellschaft zu sein, wenn ich ihn Jahre lang aus genau dieser Gesellschaft ausschließe?" Und dann wagte sie den mutigen Aufruf, sich ganz konsequent auf diese kulturwissenschaftliche Betrachtung einzulassen: Der Mensch mache und ordne die Welt, schaffe Klassifizierungen und Etiketten. Also könne auch der Mensch neu denken.
Begleitung im Ehrenamt
Und schon befanden sich Wissenschaft, Hauptamtliche und Ehrenamtliche mitten im Diskurs – wie schon am Vortag mit Daniel Wolter, Geschäftsführer des DBH, dem Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik. Er hatte sich der Frage nach den Gründen auf die Spur gemacht, warum Menschen kriminell werden. Den Hintergrund der Fachtagung und der Themenauswahl im Plenum erklärte Heike Moerland so: "Uns ist es wichtig, den Ehrenamtlichen in ihrer Arbeit Begleitung anzubieten." Für die Diakonie sei der Besuch inhaftierter und straffällig gewordener Menschen schon seit ihren Ursprüngen ein wichtiger Auftrag – den Freiwillige heute weiter pflegen und aufrechterhalten. "Die Ehrenamtlichen besuchen Menschen. Sie reduzieren die Menschen in Haft nicht auf ihre Tat und sehen sie nicht nur als Straftäter, sondern sehen Seiten an ihnen, die während der Inhaftierung sonst nicht zur Geltung kommen", sagte Heike Moerland. Genau darin liege die Kraft des Ehrenamts im Justizvollzug.
Bei NRW-Justizminister Dr. Benjamin Limbach klingt die Anerkennung für das Ehrenamt in dem besonderen Bereich des Justizvollzugs ganz ähnlich: „Ehrenamtliche treten den Gefangenen unvoreingenommen gegenüber und bringen ihnen Wertschätzung und Aufmerksamkeit entgegen“, hatte Limbach in einem Grußwort formuliert. "Sie nehmen damit nicht nur unmittelbar positiv auf das Klima in der Justizvollzugsanstalt Einfluss, sondern zeigen den Gefangenen auch, dass sie weiterhin ein Teil der Gesellschaft und nicht vergessen sind."
Text: Theresa Demski, Fotos: Theresa Demski, Ulrike Hollander, shutterstock
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