31. August 2023

Rettet den Offenen Ganztag!

Bahr: "Die Träger schaffen das nicht allein"

Inflation und steigende Löhne: Die Geldnot in den Offenen Ganztagsschulen (OGS) war das Hauptthema beim Evangelischen Fachverband Ganztagsangebote an Schule RWL. Die OGS-Träger befürchten, ihr Betreuungsangebot reduzieren oder schließen zu müssen. Familien-Staatssekretär Lorenz Bahr stellte sich den Fragen der Fachleute, die einen eindringlichen Appell formulierten: Rettet den Offenen Ganztag!

  • Schulkinder gehen in den Klassenraum.
  • Björn-Christian Jung, Ulrike Kilp, Staatssekretär Lorenz Bahr, Marcel Fischell und Tim Rietzke.

Mit wenig Geld kreative Lösungen finden, damit kennt sich Birgit Hirsch-Palepu aus. Die Geschäftsführerin der Diakonie Mülheim an der Ruhr beschäftigt sich seit 19 Jahren mit den Offenen Ganztagsschulen (OGS). Besonders stolz ist sie auf die gute Zusammenarbeit mit der Grundschule am Dichterviertel, die sich zum Vorzeigeprojekt wandelte und sogar mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde.

"Der Offene Ganztag ist unverzichtbar, gerade im Ruhrgebiet. Wir helfen, die Probleme der Kinder aufzufangen", erklärte sie Familien-Staatssekretär Lorenz Bahr, der zum Austausch zur Mitgliederversammlung des Evangelischen Fachverbandes Ganztagsangebote an Schule Rheinland-Westfalen-Lippe gekommen ist. "Mit dem strukturellen Defizit – bei uns sind es etwa eine Viertelmillion – sind wir bestens vertraut. Ich habe noch nie Angst gehabt", sagte Hirsch-Palepu. "Aber diese Dimensionen hatten wir noch nie: Durch die gestiegenen Personalkosten rechnen wir mit einem Minus von 600.000 Euro. Die Hütte brennt."

Fragen und Diskussionen: Die Mitglieder des Fachverbands brachten sich engagiert in das Gespräch mit Lorenz Bahr ein.

Fragen und Diskussionen: Die Mitglieder des Fachverbands brachten sich engagiert in das Gespräch mit Lorenz Bahr ein.

OGS-Träger rechnen mit Minus

Die Geschäftsführerin benennt damit klar ein Thema, das auch ihre 35 Kolleg*innen beschäftigt, die zur Jahresversammlung nach Düsseldorf gekommen sind: Neun von zehn OGS-Trägern rechnen einer Mitgliederbefragung des Diakonischen Werks Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL) in diesem Jahr mit einem negativen Jahresergebnis. Grund dafür sind vor allem die Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 3.000 Euro, die die Träger jedem Mitarbeitenden zahlen müssen, sowie die hohen Tarifsteigerungen von durchschnittlich elf Prozent, die ab März 2024 fällig werden. Hinzu kommt ein ohnehin vorhandenes strukturelles Finanzierungsdefizit, das die Träger bisher durch Querfinanzierungen ausgleichen konnten. Jeder dritte OGS-Träger gab bei der Befragung an, noch in diesem Jahr in einen Liquiditätsengpass zu rutschen.

Die Diakonie Mülheim an der Ruhr diskutiert deshalb, wie sie den Offenen Ganztag erhalten kann. "Wir machen das sehr gerne, wir wollen nicht schließen!", betonte Geschäftsführerin Hirsch-Palepu. "Haben Sie ein Herz für die Träger, Herr Bahr!"

Lorenz Bahr (links) und Ulrike Kilp (rechts)

Lorenz Bahr (links) stellte sich den Fragen der Mitglieder. Ulrike Kilp (rechts) schilderte die Situation in Solingen.

Bahr: "Träger schaffen das nicht allein"

Der Grünen-Politiker lauschte mit ernster Miene den eindringlichen Schilderungen aus dem RWL-Gebiet – und wurde selbst deutlich: "Es ist mir völlig klar, dass Sie das als Träger nicht allein schaffen können." Der Verweis aufs Land trage jedoch nicht. Denn erster Ansprechpartner für die Finanzierung des Offenen Ganztags seien die kommunalen Jugendämter. "Wir werden die Kommunen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Kita und OGS sind in allererster Linie kommunale Aufgaben." 
 
Für die OGS-Finanzierung ist das Landesschulministerium zuständig. In dessen Entwurf für den Landeshaushalt 2024 steht aktuell lediglich die gesetzlich verpflichtende Anhebung der OGS-Förderung um drei Prozent, also von bisher 1.042 auf dann 1.073 Euro pro Platz und Schuljahr. Bahr: "Um es klar zu sagen: Was wir als Landesregierung vorgelegt haben, ist ein Sparhaushalt. Alle Ressorts haben Einsparungen vorgenommen, damit wir bei Kindern, Jugendlichen und Familien nicht kürzen müssen."

Sparhaushalt würde Familien hart treffen

Nach Einschätzung von Tim Rietzke, Diakonie RWL-Geschäftsfeldleitung Familie und junge Menschen, verschlechtert der Sparhaushalt dennoch die Lage von Familien. "Die aktuell massiven Kostensteigerungen bewirken, dass die nur minimalen Erhöhungen wie Kürzungen wirken. Was die Landesregierung vorlegt, ist angesichts von Tarifsteigerungen von durchschnittlich elf Prozent zu wenig. Land und Kommunen müssen jetzt den Offenen Ganztag retten."

Mit Elternbriefen hat Ulrike Kilp, Geschäftsführerin der Diakonie im Kirchenkreis Solingen, die Familien schon über mögliche kürzere Betreuungszeiten informiert. "Wir rechnen mit enormen Mehrkosten aufgrund der Tariferhöhungen und müssen jetzt entscheiden: Wie viele Monate können wir die OGS noch betreiben? Ab wann müssen wir schließen?", sagte sie. "Uns steht das Wasser bis zum Hals. Wir brauchen jetzt einen Rettungsschirm für den Offenen Ganztag."

Marcel Fischell (rechts) während der Diskussion mit Ulrike Kilp (links).

Plädierte dafür, die Qualität beim OGS-Ausbau nicht hinten anzustellen: Marcel Fischell, Geschäftsführer des Evangelischen Bildungswerkes des Kirchenkreises Duisburg. 

Rechtsanspruch ab 2026 sicherstellen

Marcel Fischell, der Vorsitzende des Fachverbands und Geschäftsführer des Evangelischen Bildungswerkes des Kirchenkreises Duisburg, warb dafür, dass sich Land und Kommune auf eine Lösung verständigen. Mit Blick auf den OGS-Rechtsanspruch ab 2026 betonte er den qualitativen Ausbau: "Mit jedem Monat, der verstreicht, fehlt uns Trägern die Zeit, Fachkräfte zu gewinnen und zu qualifizieren." Auch bei den Räumen gebe es einen großen Aufholbedarf. 

Wie kann nun das OGS-Gesetz aussehen? Die Prioritäten des Familienministeriums beschrieb Bahr so: "Wir müssen den quantitativen Ausbau schaffen. Das hat absolute Priorität, weil es den Rechtsanspruch gibt." Im zweiten Schritt werde das Land die Qualität aufbauen. "Lassen Sie uns ein realistisches Gesetz machen, das wir finanzieren und umsetzen können."

Text und Fotos: Jana Hofmann

Ihr/e Ansprechpartner/in
Tim Rietzke
Geschäftsfeld Familie und junge Menschen