20. September 2023

Weltkindertag

Per App: Mit Jugendlichen Kinderrechte stärken

Alexander Hundenborn ist bei der Diakonie RWL Projektleiter der Kinderrechte-App "Justy". Er entwickelt die App gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen der stationären Jugendhilfe. Zum Weltkindertag sprechen wir mit ihm über Kinderrechte und darüber, wie junge Menschen ihre Rechte stärker über die App wahrnehmen können. 

  • Alexander Hundenborn ist bei der Diakonie RWL Projektleiter der Kinderrechte-App "Justy". Er entwickelt die App gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen der stationären Jugendhilfe. Foto: Christoph Bild / Diakonie RWL

Was bedeutet Ihnen der heutige Weltkindertag?

Alexander Hundenborn: Der Weltkindertag macht sichtbar, wie junge Menschen in unserer Gesellschaft aufwachsen und welche Perspektiven sie in dieser haben. Der Tag zeigt den Verbesserungsbedarf für Kinder und Jugendliche auf, beispielsweise Beteiligungsmöglichkeiten nochmal neu in den Blick zu nehmen und die Bedarfe fokussiert anzuschauen, damit sie eine bessere Zukunft haben können. 

Sie sind Referent im Geschäftsfeld Familie und junge Menschen bei der Diakonie RWL und leiten das Projekt der Kinderrechte-App "Justy". Was ist das Ziel und wie hilft eine App Kinderrechte zu stärken?

Hundenborn: Die App "Justy" verfolgt das Ziel, Kinderrechte sichtbarer zu machen – unabhängig von Ort und Zeit. Wir fokussieren uns zunächst auf den Bereich der stationären Erziehungshilfe. Also der Heimerziehung von Kindern, die rund um die Uhr im Erziehungsprozess von Pädagog*innen in ihrer Lebensgestaltung begleitet, betreut und unterstützt werden.

Für mich ist wichtig, dass Kinder und Jugendliche aus den Einrichtungen das Rüstzeug mitbekommen, ihre eigenen Kinderrechte kennenzulernen und wahrzunehmen. Dass sie sich Fragen stellen, wie zum Beispiel: Was darf ich als Kind? Und achtet meine Umwelt, die Gesellschaft, die Einrichtung, in der ich lebe, auf mich und das, was ich in Anspruch nehmen darf?

Kinder und Jugendliche lernen über die Kinderrechte-App "Justy", wie sie ihre Privatsphäre wahrnehmen und schützen können. Foto: pixabay

Kinder und Jugendliche lernen über die Kinderrechte-App "Justy", wie sie ihre Privatsphäre wahrnehmen und schützen können.

Wie genau kann die App die Kinder und Jugendlichen in ihren Kinderrechten unterstützen? 
Hundenborn: Im ersten Schritt geht es dabei um Prävention: Wenn die Kids die Kinderrechte-App "Justy" auf ihrem Smartphone haben, dann können wir davon ausgehen, dass sie sich mit ihren Kinderrechten beschäftigen. Das heißt, die Kinder und Jugendlichen wissen beispielsweise, was Privatsphäre bedeutet und wie sie diese wahrnehmen und schützen können.

Ein Beispiel: In einigen Fällen ist berichtet worden, dass Smartphones als Sanktionsmöglichkeiten weggenommen werden, weil im Alltag Regeln nicht eingehalten wurden, beispielsweise die Spülmaschine auszuräumen. Aber Smartphones wegzunehmen und Inhalte, wie Chats, zu kontrollieren, sind ein Eingriff in die Privatsphäre von Kindern und Jugendlichen. 

In einem solchen Fall könnten die Kinder und Jugendlichen durch "Justy" lernen, dass ihre Privatsphäre verletzt wurde, wie und wo sie sich Hilfe suchen und es zu einer Klärung für die Zukunft kommt. 

Haben alle Kinder und Jugendlichen überhaupt ein Smartphone?

Hundenborn: Mittlerweile eigentlich fast ja. Das belegen zum Beispiel die JIM- und KIM-Studien vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest. In der Studie spricht man davon, dass 98 bis 99 Prozent der Zwölfjährigen ein eigenes Smartphone mit Internetzugang besitzen. Mittlerweile geht man sogar davon aus, dass viele Kinder bereits mit spätestens zehn Jahren ein eigenes Smartphone besitzen. Genau das wäre auch mein Wunsch, dass die App ab diesem Alter genutzt werden kann.

Wie können Kinder und Jugendliche sich per "Justy" konkrete Hilfe suchen?

Hundenborn: Mit einem Beschwerde-Managementsystem der App erhalten die Kinder und Jugendlichen ein Sprachrohr. Damit sie sagen können: "Hier passt etwas für mich nicht. Hier habe ich Bedarfe und ich brauche Unterstützung."

In der App antworten echte Menschen. Nur am Anfang einer Anfrage des Jugendlichen öffnet sich ein Dialog-Feld, das an einen Chat erinnert, um die Nutzer*innen zu fragen, ob sie sich an eine externe oder interne Stelle ihrer Einrichtung wenden wollen und welchen Bedarf sie haben. Danach öffnet sich ein gesicherter 1-zu-1-Chat, in dem erfahrene Fachkräfte Unterstützungsangebote anbieten. Im Gesprächsverlauf entscheiden die beiden Gesprächsparteien, ob sie sich wieder treffen möchte – real, per Video, per Telefonie oder gar nicht.

Die Kinderrechte-App "Justy" soll Kindern, Jugendlichen und Erwachsen zugänglich sein, um sich über Kinderrechte zu informieren. Foto: pixabay

Die App "Justy" soll Kindern, Jugendlichen und Erwachsen zugänglich sein, um sich über Kinderrechte zu informieren. 

Können auch Kinder und Jugendliche außerhalb der Jugendhilfe sich in der App über ihre Kinderrechte schlau schauen?

Hundenborn: Ganz klar ja! Was wir in der App entwickeln, soll frei zugänglich, leicht verständlich und möglichst nah an die Standards von Barrierefreiheit herankommen – für alle Kinder, Jugendlichen und auch Erwachsenen. 

Das einrichtungsspezifische Beschwerde-Managementsystem von "Justy" steht aber nur den Einrichtungen der Jugendhilfe zur Verfügung. Das hängt unter anderem mit dem Datenschutz, aber auch mit den individuellen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen in den Einrichtungen und auch der Systematik der Erziehungshilfe zusammen. 

Welche Herausforderungen gibt es bei der Entwicklung der App? 

Hundenborn: Drei Herausforderungen fallen mir hier ein: 
1. Die Bedarfe von Kindern und Jugendliche zu kennen und diese verständlich in der App für sie abzubilden und passende Unterstützungsmöglichkeiten an die Hand zu geben. 
2. Bei einem Produkt mit digitaler Kommunikation von und für Kinder ist der Datenschutz eine Herausforderung. Wenn Kinder über persönliche Erfahrungen sprechen oder Inhalte dazu selbst erstellen, sind das sensible Informationen, die besonders gesichert werden müssen. Und das ist für uns natürlich von besonderer Bedeutung; einen sicheren Ort zu bieten.
3. Anderseits soll die Software der App kindgerecht sein, also möglichst zugänglich und audiovisuell ansprechend. Der Datenschutz steht dem gelegentlich gegenüber. 

Kinder und Jugendliche entwickeln die Kinderrechte-App "Justy" mit. Ihr Gestaltungswille macht die App erst authentisch. Foto: shutterstock

Kinder und Jugendliche entwickeln die Kinderrechte-App "Justy" mit. Ihr Gestaltungswille macht die App erst authentisch.

Der Weltkindertag macht deutlich, dass Kinder und Jugendliche an den Prozessen ihrer Umwelt stärker beteiligt werden sollen. Wie sieht das bei der Entwicklung der App aus?

Hundenborn: Die Jugendlichen sind auf jeden Fall und sehr direkt beteiligt. Kinder, Jugendliche und Fachkräfte aus sieben Einrichtungen der stationären Jugendhilfe aus dem Verbands-Gebiet der Diakonie RWL wurden zu ihren Bedürfnissen und Erwartungen an eine Kinderrechte-App von Professor Dr. Nicole Knuth und ihrem wissenschaftlichen Mitarbeiter Marius Biele von der Fachhochschule Dortmund befragt. Die Auswertung der Ergebnisse läuft aktuell.

Ich selbst habe Kinder und Jugendliche in zwei Workshops gefragt, ob sie Inhalte für die App beisteuern möchten. Eine Jugendliche sagte beispielsweise: "Ich habe einen Tik Tok-Account, den ich sehr gewissenhaft pflege und unheimlich viel Spaß daran habe, digital Inhalte zu erstellen. Ich hätte super viel Spaß daran, beispielsweise kurze Erklärvideos für die App zu vertonen und aufzunehmen."

Das ist doch klasse! Diesen Gestaltungswillen brauchen wir, um die Sicht von Kindern und Jugendlichen auf ihre Rechte in der App darstellen zu können – von Jugendlichen, für Jugendliche. So wird die App authentisch und die Fragen aus dem Alltag können beantwortet werden.

Das Deutsche Kinderhilfswerk schreibt zum Weltkindertag, dass die Kinder-Interessen in der Politik nach wie vor an vielen Stellen systematisch ausgeblendet werden. Unter anderem sollten demokratische Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen deutlich gestärkt werden. Wie sehen Sie das? 

Hundenborn: Aus meiner Perspektive geht es um die Aufklärung über Kinderrechte und Demokratie. Die Bundeszentrale für politische Bildung und die Landeszentrale für politische Bildung leisten beispielsweise mit ihrer Arbeit einen großen Beitrag, um zu verstehen, welche Prozesse es gibt, damit Menschen – und insbesondere Kinder und Jugendliche – unsere Gesellschaft mitgestalten und mitbestimmen können. 

Im Zuge der älter werdenden Gesellschaft sollten junge Menschen mehr politische Mitbestimmung erhalten, beispielsweise über die Absenkung des Wahlalters. Soziale, sozio-ökonomische und soziokulturelle Unterschiede sollten abgebaut werden, damit eine Chancengleichheit nicht nur auf dem Papier, sondern tatsächlich faktisch besteht.

Ein Blick in eine ideale Welt für Kinder. Wie sähe diese aus?

Hundenborn: Das ist für mich nur schwer vorstellbar, weil ich als Erwachsener da lieber Kinder und Jugendliche direkt für sich sprechen lassen würde. Aber ich würde mir wünschen, dass die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in den Blick genommen werden und daraufhin unsere Gesellschaft, Politik und auch Wirtschaft ausgerichtet wird.  

Ein Beispiel ist unser Stadtbild: In den letzten 20, 30 Jahren ist hier etwas passiert, das sich jetzt langsam wieder wandelt, indem beispielsweise Parkplätze zu gemeinschaftlichen Orten, wie Spielplätzen, umgebaut werden. Dieser Umbau des Stadtbildes müsste meiner Meinung nach noch viel stärker passieren, damit Kinder und Jugendliche Orte in der Mitte der Gesellschaft haben, in denen sie sich sicher aufhalten können.

Für mich sind Kinder und Jugendliche ein selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft. Sie sind unsere Zukunft. Kinder sollen über ihre Bereiche mitbestimmten dürfen – vom Spielplatz bis zur Schule. Genau das steht unter anderem in der UN-Kinderrechtskonvention drin. 

Das Interview führte Christoph Bild, Fotos: Christoph Bild/Diakonie RWL, pixabay, shutterstock

Ihr/e Ansprechpartner/in
Alexander Hundenborn
Geschäftsfeld Familie und junge Menschen
Weitere Informationen

Über die App

Die Projektentwicklung der Kinderrechte-App "Justy" wird von der Aktion Mensch Stiftung über fünf Jahre (2023 bis 2027) mit 941.000 Euro gefördert.

Aktuell werden die Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Befragung von Kindern, Jugendlichen und Fachkräften aus Piloteinrichtungen der stationären Jugendhilfe ausgewertet. Mit der Interpretation der Daten erstellt die beemio GmbH, eine Ausgründung der Fachhochschule Münster, die sich um die technische Entwicklung der App kümmert, ein Prototyp. Diesen können Jugendliche und Fachkräfte aus den Piloteinrichtungen über ein Wochenende lang im November testen.