28. Juli 2021

Pflegeheime im Hochwassergebiet

"Wir haben zunächst nur funktioniert"

In der Nacht zum 15. Juli wird die Seniorenresidenz der Theodor Fliedner Stiftung in Bad Neuenahr vom Hochwasser überspült. Hier erzählen diejenigen, die an den Betten ihrer Bewohnerinnen und Bewohner wachten, wie sie diese Nacht erlebt haben. Sie berichten von Momenten der Hilflosigkeit und großer Ohnmacht. Und davon, wie Mut und Solidarität halfen, Leben zu retten.

  • Seniorenresidenz der Theodor-Fliedner-Stiftung in Bad Neuenahr
  • Garten der Seniorenresidenz der Theodor-Fliedner-Stiftung in Bad Neuenahr
  • Zerstörte Seniorenresidenz der Theodor-Fliedner-Stiftung in Bad Neuenahr
  • Zerstörter Speisesaal der Seniorenresidenz der Theodor-Fliedner-Stiftung in Bad Neuenahr
  • Zerstörtes Zimmer der Seniorenresidenz der Theodor-Fliedner-Stiftung in Bad Neuenahr

Als Martin Falkenberg am späten Mittwochabend des 14. Juli zu Hause aufbricht, ahnt er noch nicht, was ihn in den nächsten 48 Stunden erwartet. Falkenberg leitet die Fliedner Residenz in Bad Neuenahr, ein Seniorenheim der Theodor Fliedner Stiftung. In einer schönen Jugendstil-Villa von 1900, direkt an dem kleinen Flüsschen im malerischen Ahrtal gelegen, betreut die Stiftung gut 50 Seniorinnen und Senioren zwischen 70 und 102 Jahren.

"Um 23 Uhr kam ich zu Fuß in der Residenz an, mein Auto hatte ich vorsorglich am Bahnhof abgestellt. Zu dem Zeitpunkt wussten Polizei und Feuerwehr schon, dass uns das Hochwasser treffen würde und dass unser Haus womöglich evakuiert werden müsste", erzählt der erfahrene Einrichtungsleiter. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen kann: Bis es so weit ist, wird es noch mehr als 24 Stunden dauern. Zwei Nächte und einen Tag, an dem das Wasser der Ahr immer weiter steigen und alle Brücken im Ort zerstören wird. An dem die Kellerräume und das Erdgeschoss des Seniorenheims bis zu eineinhalb Metern geflutet werden. An dem irgendwann der Strom ausfällt, das Handynetz zusammenbricht und die Kanalisation den Geist aufgibt.

Licht vom E-Bike des Hausmeisters

Was die wachenden Helferinnen und Helfer in dieser ersten Nacht begleitet, ist tosender Lärm – und zugleich Stille. "Das Wasser, das tonnenweise durch das Ahrtal rauschte, war unglaublich laut", erzählt Falkenberg. Er hört berstende Fensterscheiben, schreiende Menschen und sieht, wie Autos, Holzpfähle und Gastanks die Ahr hinunterrauschen. 
Während die sonst nur rund 70 Zentimeter tiefe Ahr immer weiter steigt und den Ort überflutet, schlafen alle Bewohnerinnen und Bewohner friedlich in ihren Betten die ganze Nacht hindurch.

Als der Strom ausfällt, verschaffen sich die Mitarbeitenden immer wieder kurzzeitig Licht mit dem E-Fahrrad des Hausmeisters. Geistesgegenwärtig tragen sie Lebensmittel aus der Küche im Erdgeschoss nach oben: Aufschnitt, Brote, Kartoffelsalat. So ist wenigstens das Frühstück am nächsten Morgen gesichert. Hubschrauber kreisen über dem Ort und retten Menschen, die sich auf ihre Dächer geflüchtet haben. Vom obersten Stockwerk der Fliedner Residenz aus sieht Martin Falkenberg die Autobahn 61 – "die Kette der Blaulichter war schier endlos und riss nicht ab."

Warten auf die Evakuierung

Mehrmals in der Nacht versucht Falkenberg, die Rettungskräfte zu erreichen. Als es ihm über Umwege gelingt, erfährt er, dass seine Einrichtung vorerst nicht evakuiert werden kann. Erst eine Nacht später, am Freitag gegen ein Uhr morgens, werden alle Bewohnerinnen und Bewohner gerettet.

Mittlerweile ist die Ahr deutlich abgeflossen und ein Weg zur Residenz so weit frei, dass die Menschen vom Erdgeschoss aus in bereitstehende Laster gesetzt werden können. Aus dem Ahrtal geht es zunächst in provisorisch eingerichtete Auffanglager in der Umgebung. In Andernach, Remagen und Mayen waren in Schulen Lager mit Betten und Matratzen eingerichtet worden.

Große Hilfsbereitschaft in NRW-Heimen 

Nur einen Tag später kommen alle Bewohnerinnen und Bewohner in Pflegeeinrichtungen in NRW unter. Im Dorf "Wohnen im Alter" in Mühlheim an der Ruhr, im Fliedner Krankenhaus Ratingen, im Seniorenwohnheim "Pflege und Wohnen am Park" in Duisburg sowie in einer Einrichtung der AWO in Dortmund ist die Solidarität groß. "Unsere Senioren wollten sofort selbst spenden: Schuhe, Kleidung, Utensilien des täglichen Bedarfs", erzählt Jennifer Jaks, die Pflegedienstleiterin im Dorf "Wohnen im Alter". 

Diejenigen mit größeren Einzelzimmern erklären sich schnell einverstanden, vorübergehend ihre Zimmer zu teilen. Auch in der Mitarbeiterschaft waren Hilfsbereitschaft und Solidarität riesig. "Viele haben freiwillig Doppelschichten geschoben oder auf freie Tage verzichtet, um den neuen Bewohnern das Ankommen zu erleichtern", so Jaks. Dank digitaler Pflegeakten konnte die Stiftung mühelos auch von anderen Häusern aus auf alle wichtigen Informationen wie etwa Medikamentenpläne zugreifen.

Martin Falkenberg, Leiter der Seniorenresidenz der Theodor Fliedner Stiftung in Bad Neuenahr

Martin Falkenberg, Leiter der Seniorenresidenz der Theodor Fliedner Stiftung in Bad Neuenahr 

Erinnerungen an den Krieg werden wach

Doch die Pflegenden machen sich jetzt große Sorgen um die alten Leute. „Einige fühlten sich durch die Bilder und Empfindungen an den Zweiten Weltkrieg erinnert“, sagt Jaks. Sie müssen nun auch psychisch betreut werden. Die bei vielen schon vorher vorhandenen Demenzen erschweren die Situation. Die damit einhergehende Orientierungslosigkeit war vor allem in den Notunterkünften herausfordernd. Manche Bewohner wussten nicht, wo sie waren und wie sie heißen. Das hat die Nachverfolgung erschwert. 

"Als unsere Kollegen die Klienten in Andernach abgeholt hatten, nahmen wir eine alte Dame in Empfang. Sie war nur mit einem OP-Hemdchen bekleidet, ihre nackten Füße steckten in schlammbeschmutzten Straßenschuhen", erzählt Jennifer Jaks. Ein 90-Jähriger kann selbst in dieser Situation noch Humor aufbringen. Er sagt: "Ich habe als Jugendlicher Bombennächte überlebt, da kann mir das hier auch nichts anhaben." Nur eine Sorge treibt ihn um: Sein Gebiss war im Erdgeschoss von Wasser und Schlamm begraben und nicht mehr zu finden.

Erstes Aufräumen beginnt

Während die alten Menschen in ihren neuen Wohnungen herzlich aufgenommen und die Angehörigen mit einer 24-Stunden-Hotline informiert werden, beginnen in Bad Neuenahr erste Aufräumarbeiten. Viele Mitarbeitende aus der Residenz sowie 40 Ehrenamtliche, die sich über eine Nothilfe-Plattform im Internet koordiniert haben, stehen bereit und entfernen mit Schneeschiebern den Schlamm aus dem Erdgeschoss.

"Diese große Anteilnahme und Hilfe hat uns berührt und sehr viel Mut gemacht", sagt Martin Falkenberg. "Wir haben in diesen 48 Stunden nur funktioniert, das ganze Ausmaß dieser Katastrophe haben wir überhaupt noch nicht realisiert." Er sei dankbar, dass keine Personen zu Schaden gekommen sind. Die Schäden am Haus jedoch sind immens.

Andreas Zeeh, Leiter des Zentrums Teilhabe, Inklusion und Pflege der Diakonie RWL (Foto: Damaschke/Diakonie RWL)

Andreas Zeeh, Leiter des Zentrums Teilhabe, Inklusion und Pflege der Diakonie RWL, unterstützt die betroffenen Einrichtungen mit seinem Team. 

Mehrere Einrichtungen betroffen

So wie der Fliedner-Residenz ging es auch einigen anderen Pflegeeinrichtungen. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Wöllner-Stifts in Rösrath mussten evakuiert werden – und kamen in einem Hotel im gleichen Ort unter. Es sei beeindruckend, was die diakonischen und kirchlichen Einrichtungen geleistet hätten, sagt Andreas Zeeh, Leiter des Zentrums Teilhabe, Inklusion und Pflege der Diakonie RWL.

"Wir haben für die betroffenen alten Menschen Plätze in anderen Einrichtungen vermittelt und auch Pflege-Personal." In Rösrath beispielsweise musste die Belegschaft schnell aufgestockt werden, da das Pflegeteam in dem Hotel unter erschwerten Bedingungen arbeitet. "Pflegekräfte haben kurzfristig ihre Stundenzahlen aufgestockt, um zu helfen. Sie haben viele Überstunden gemacht und machen das noch immer. Wir wissen auch von Mitarbeitenden, die spontan ihren Urlaub abgebrochen haben, als sie von der Flut hörten. Es gibt eine große Solidarität."

In einem zweiten Schritt sammelt Zeeh mit seinem Team nun übergreifende Fach- und Finanzierungsfragen, um diese gebündelt an das Sozialministerium sowie die Kranken- und Pflegekassen weiterzugeben. "Am meisten freue ich mich darüber, wenn wir schnell und unbürokratisch Hilfe vermitteln können", so der Zentrumsleiter. 

Zwei Mitarbeitende übergeben einem Altenheimbewohner sein Gebiss.

Freude über das wiedergefundene Gebiss

Bäume verhindern Schlimmeres

Zurück in Bad Neuenahr: Zwei Tage nach dem Unglück gräbt sich Martin Falkenbergs Frau Susanne in einem Zimmer im Erdgeschoss durch den Schlamm. Und tatsächlich findet sie schon bald, wonach sie sucht: Das Gebiss des 90-jährigen Bewohners.

"Als wir es ihm in seine neue Unterkunft brachten, war er überglücklich und meinte, das wäre das schönste Geschenk, das er je bekommen habe", sagt Martin Falkenberg. Feuerwehr und THW werden ihm später bestätigen, dass die hohen Bäume, die zwischen der Ahr und der Seniorenvilla stehen, das Haus vor größerem Schaden bewahrt haben. Autos, Gastanks und andere wuchtige Gegenstände wurden abgefangen und zurück in die Ahr getrieben. Die Bäume hielten stand. Wie Felsen in der Brandung.

Text: Franz Werfel, Fotos sowie Video: Theodor Fliedner Stiftung