28. Februar 2023

Schuldnerberatungsstellen

"Jetzt kommt der Mittelstand"

Pandemie, Energiepreisexplosion und Ukraine-Krieg: Immer mehr Menschen wachsen ihre Schulden über den Kopf: Einer Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung zufolge berichten 65 Prozent der gemeinnützigen Beratungsstellen von mehr Anfragen. Auch in NRW ist der Bedarf gestiegen, sagt Diakonie RWL-Expertin Petra Köpping.

  • Junge Eltern mit Kleinkind rechnen besorgt Geld und Rechnungen zusammen.

Erst Corona, dann die steigenden Preise für Energie und Lebensmittel: Anfangs konnte der Selbstständige seine Schulden noch begleichen. Doch die letzte Rate war zu viel. Wegen der hohen Kosten für das alltägliche Leben konnte er die 350 Euro für die letzte Rechnung nicht aufbringen und suchte Rat bei Schuldnerberaterin Maike Cohrs vom Diakonischen Werk Köln und Region: "Wir gehen jetzt in Verhandlung mit dem Gläubiger und hoffen, eine gute Lösung für unseren Klienten zu erreichen."

Die Schuldnerberaterin unterstützt in den letzten Monaten immer mehr Menschen, die die Krisen der vergangenen Jahre noch meistern konnten. Doch jetzt stoßen sie an ihre Grenzen – vermehrt auch Menschen, die einen Job haben und vorher keine Beratung zu Schulden brauchten. "Die finanziellen Nöte sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen", berichtet Cohrs. "Die Ängste sind groß. Durch die Pandemie haben viele Familien ihr Erspartes aufgebraucht, sodass sie wenig Rücklagen haben." Entsprechend ist auch die Nachfrage gestiegen: Allein ihre Schuldnerberatungsstelle im Rhein-Erft-Kreis könnte vier Mal so viele Ersttermine herausgeben, wie möglich sind.

Frieren im Winter: Mutter hält ihr Kind in den Armen.

Können wir überhaupt heizen? Immer mehr Familien kommen in existenzielle Nöte.

Nachfrage enorm gestiegen

Bundesweit bietet sich ein ähnliches Bild: Im Vergleich zum Jahresbeginn 2022 berichten 65 Prozent der gemeinnützigen Beratungsstellen in einer Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) von mehr Anfragen. In NRW berichteten 61 Prozent der Beratungsstellen von mehr Anfragen, in Rheinland-Pfalz sogar 80 Prozent. Die Beratungsstellen müssen verstärkt bei Energie- und Mietschulden, bei der Pfändung von Staatshilfen oder bei der Budgetberatung unterstützen.

"Die wirtschaftliche Not vieler Menschen und damit der Bedarf nach Unterstützung und Beratung wachsen kontinuierlich. Die Pandemie hatte bereits diesen Effekt, nun sind es die steigenden Preise, die die Haushalte in finanzielle Schwierigkeiten treiben", erklärt Roman Schlag, Referent für Schuldnerberatung für die Caritas in Aachen und Sprecher der AG SBV. "Klar ist aber: Die explodierende Nachfrage bringt unsere Beratungsstellen ans Limit. Die Wartelisten für Termine werden immer länger und warten ist bei Geldproblemen nie eine gute Sache."

In knapp der Hälfte (48 Prozent) der befragten Beratungsstellen kommen "Energieschulden" als Beratungsgrund häufiger vor als in der Vorperiode, in 42 Prozent der Beratungsstellen ist "Budgetberatung" mehr gefragt. "Hinter Budgetberatung verbirgt sich die Frage: Wie komme ich klar mit dem Geld, das ich zum Leben habe?", erläutert die Kölner Schuldnerberaterin Maike Cohrs. "Es sind grundlegende Existenzfragen, die unsere Klientinnen und Klienten umtreiben – da geht es darum, ob die Wohnung im Winter überhaupt geheizt wird oder ob Essen auf den Tisch kommt."

Themenfoto Schulden - Taschenrechner mit Quittungen (Foto: pixabay)

"Die Menschen werden mit sehr viel weniger Geld auskommen müssen als bisher", sagt Schuldnerberaterin Maike Cohrs.

Neue Gruppe Erwerbstätige

In 45 Prozent der Beratungsstellen waren unter den Ratsuchenden mehr Erwerbstätige als in der vorigen Umfrage. "Geldnöte bis hin zu Schulden sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen", sagt Maike Cohrs. Waren früher typische Gründe für Schulden unerwartete Schicksalsschläge wie Arbeitslosigkeit oder Trennung, gibt es nun mit den Erwerbstätigen eine neue Personengruppe und mit den gestiegenen Energiekosten einen neuen Überschuldungsgrund. "Wir werden hier langfristig ein Problem haben", betont die Schuldnerberaterin. "Die Menschen werden mit sehr viel weniger Geld auskommen müssen als bisher, da die Gehälter und Renten nicht in dem Maße gestiegen sind, wie die Kosten."

Ratenkredite und Angebote des "Buy now – pay later", die insbesondere seit der Pandemie durch Online-Händler intensiv beworben werden, führen dazu, dass junge Erwachsene bereits in frühen Jahren Zahlungsverpflichtungen eingehen, die sie später in die Schuldenfalle führen können – etwa, wenn Unvorhergesehenes passiert wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit.

"Wir stellen seit einigen Jahren fest, dass die Aufnahme von Schulden in bestimmten Gruppen gesellschaftlich immer stärker akzeptiert und wirtschaftlich gewollt ist – sei es bei der Finanzierung des Autos, der Wohnungseinrichtung oder des Smartphones", so die Schuldnerberaterin weiter: "Das liegt nicht zuletzt an den niedrigen Zinsen in der Vergangenheit."

Portrait Petra Köpping

Schnelle und kostenfreie Beratung bei Schulden fordert Diakonie RWL-Referentin Petra Köpping.

"Anfragen im neuen Jahr explodiert"

"Aufgrund der großen Nachfrage brauchen die betroffenen Menschen manchmal Durchhaltevermögen, um unsere Beraterinnen und Berater zu erreichen: Das zur Verfügung stehende Beratungsangebot hält der Nachfrage kaum stand", weiß Petra Köpping, Diakonie RWL-Referentin für Schuldner- und Insolvenzberatung. "Menschen in existenzieller Not erhalten trotzdem zügig Hilfe – die Beraterinnen und Berater ziehen brisante Fälle vor. So ist gesichert, dass die Menschen ihre Wohnung behalten und Energiesperren verhindert werden können."

Die Umfrage deckt den November und Dezember 2022 ab. Doch das ist erst der Anfang, beobachtet Köpping: "Seit dem 1. Januar sind die Anfragen explodiert. Die Nebenkostenabrechnungen trudeln erst nach und nach ein – der Beratungsbedarf wird weiter steigen."

Gerade deshalb ist es wichtig, möglichst frühzeitig gegenzusteuern. "Wer sich Hilfe holt, hat eine bessere Chance, aus der Überschuldung zu kommen", betont Köpping. "Alle, die in Schwierigkeiten geraten, sollten einen Rechtsanspruch auf eine kostenfreie Beratung haben." Dieser Anspruch müsse auf Bundesebene gesetzlich verankert werden. "Wir dürfen die Menschen, die in die Schuldenfalle geraten sind, nicht allein lassen. Sie brauchen dringend Unterstützung, um aus ihrer finanziellen Notlage herauszukommen."

Text: Jana Hofmann mit Material von der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände, Fotos: Diakonie RWL/Shutterstock/Pixabay 

In die Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatungsstellen der Verbände (AG SBV) haben sich die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege (Deutscher Caritasverband, Diakonie Deutschland, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz), der Verbraucherzentrale Bundesverband und die Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung mit insgesamt 1.400 Beratungsstellen zusammengeschlossen. An der dritten Befragungswelle zwischen dem 11. November und dem 27. Dezember 2022 beteiligten sich 460 Beratungsstellen. 

Weitere Informationen

Auch das RWL-Gebiet verzeichnet, wie in den ersten beiden Umfragen, eine gestiegene Nachfrage nach Schuldnerberatung. Die Nachfrage erhöhte sich in NRW um 61 Prozent, in Rheinland-Pfalz um 80 Prozent, im Saarland um 33 Prozent. Ähnlich wie im Bundesschnitt berichten die Beratungsstellen in NRW und Rheinland-Pfalz von deutlich mehr Erwerbstätigen, die Unterstützung suchten: Im Winter 2022 waren es 44 Prozent in NRW, 45 Prozent in Rheinland-Pfalz, 100 Prozent im Saarland. Zum Vergleich: 2021 waren es noch 24 Prozent in NRW sowie jeweils 17 Prozent in Rheinland-Pfalz und im Saarland. Die größten Themen waren auch im RWL-Gebiet Energieschulden, Pfändung von Hilfen sowie Budgetberatung.