Tag der Pflege 2024
Wenn Edelgard Müller ins Bett geht oder aufsteht, zur Toilette muss oder sich die Hose anzieht, dann dauert das. "Ich wäre natürlich viel schneller, wenn die Pflegekräfte mich einfach ins Bett heben oder auf die Toilette setzen würden", sagt die 82-Jährige. "Aber das machen die hier nicht ", sagt sie und verzieht im Spaß das Gesicht, "ich muss fast alles allein machen." Mo, so heißt ihr Pfleger, unterstütze sie lediglich und greife ein, wenn es unbedingt nötig sei. "Manchmal nimmt Mo auch meine Hände, und dann tanzen wir." Seit rund sechs Wochen geht Edelgard Müller außerdem selbstständig auf die Toilette. Ihre Arme kann sie weit hinter den Kopf strecken und das linke Bein mittlerweile hochheben und halten. Selbst ein paar Schritte ohne Hilfe am Rollator oder mit dem Vierpunktstock sind möglich.
Zurück ins Leben
"Für Frau Müller ist das eine unglaubliche Leistung, sie hat sich wirklich ins Leben zurückgekämpft", sagt Kathrin Hendricks, die im Haus Ruhrgarten in Mülheim an der Ruhr die Therapeutische Pflege koordiniert. Denn seit ihrem Schlaganfall im Oktober 2020 sitzt Edelgard Müller im Rollstuhl, ihre linke Körperhälfte ist gelähmt. Zuvor lebte die Seniorin allein in ihrer Wohnung, fuhr Auto, ging regelmäßig zur Wassergymnastik, traf ihre Freundinnen und engagierte sich ehrenamtlich als Grüne Dame im Seniorenheim. Ihre liebsten Hobbys: lesen und Rätsel lösen. All das wurde ihr von jetzt auf gleich genommen. Nach dem Schlaganfall folgten zuerst ein einwöchiger Krankenhausaufenthalt und im Anschluss eine neunwöchige Früh-Reha. "Da habe ich fast nur gelegen und geschlafen", erzählt Edelgard Müller. Mit jedem Tag mehr sank ihre Lebenslust bis zu dem Punkt, dass sie ihr Leben beenden wollte. "Aber selbst das konnte ich ja nicht."
Erst mit ihrem Einzug ins Haus Ruhrgarten im Februar 2021 verbesserte sich ihr Zustand von Tag zu Tag. "Nach einem Jahr war Frau Müller wieder richtig gut drauf", erinnert sich Kathrin Henricks. Heute lache sie viel, engagiere sich im Bewohnerbeirat und sei eine echte Bereicherung für die Gemeinschaft. Außerdem hat die 82-Jährige die Musik und Malerei neu für sich entdeckt und ihre alte Liebe zum Lesen wieder gefunden. "So viele Bücher wie Frau Müller liest, können wir gar nicht ranschleppen", sagt Kathrin Hendricks. Wie das alles passieren konnte? "Man traut mir hier was zu, und ich muss richtig was tun", sagt Edelgard Müller. "Woanders hätte ich vielleicht einfach meine Tabletten geschluckt, wäre mit Windeln im Bett liegen geblieben und hätte mich im Rollstuhl herumfahren lassen." Nicht so im Haus Ruhrgarten, wo es immer wieder heißt: Raus aus dem Bett!
Den Fitnessbereich im Haus Ruhrgarten nennen die Bewohner*innen und das Personal scherzhaft "Folterkammer".
Weniger Stürze, weniger Medikamente
Damit ist das Konzept der Einrichtungen der Evangelischen Altenhilfe Mülheim an der Ruhr schon ziemlich genau beschrieben: Sowohl im Haus Ruhrgarten als auch im benachbarten Haus Ruhrblick mit insgesamt 113 Bewohner*innen wird das Pflegemodell "Therapeutische Pflege mit rehabilitativen Anteilen" gelebt. Heißt: Verschiedene Angebote wie Physio- und Ergotherapie, Musik- und Kunstgeragogik, Logopädie und Gymnastik sowohl von internen wie von externen Fachkräften nehmen viel Raum ein. Was aber fast noch wichtiger ist: Diese therapeutischen Ansätze werden nicht nur stundenweise, sondern permanent im Heimalltag umgesetzt. Die Folgen sind deutlich weniger Wundliegen, Stürze und Krankenhauseinweisungen sowie weniger Verordnungen, Medikamente und Heilmittel.
Lebensqualität und Lebenslust
"Unsere Bewohner*innen werden hier nicht nur versorgt, sondern individuell so weit wie möglich wieder fit fürs Leben gemacht", berichtet Kathrin Hendricks. Bei zehn bis 15 Prozent der Bewohner*innen führe das sogar dazu, dass sie das Heim nach einiger Zeit wieder verlassen und in ihre Wohnungen zurückkehren könnten. "Wir sind davon überzeugt, dass auch Menschen in Langzeitpflege einen Anspruch auf Rehabilitation haben", so Hendricks. Das sorge bei den Senior*innen für mehr Lebensqualität und Lebenslust und bei den Pflegekräften für Entlastung im Arbeitsalltag. "Denn wenn die alten Menschen mobiler sind, erleichtert das auch den Job für die Pflegekräfte. Und die sichtbaren Therapieerfolge motivieren und erfüllen die Arbeit mit Sinn."
Wesentlich für die Therapie sind die Vernetzung und der ständige Austausch aller beteiligten Personen. "Schon vor dem Einzug einer Person holen wir so viele Infos wie möglich über diese ein, damit wir direkt mit der Therapie starten können und keine Versorgungslücke entsteht", erklärt Kathrin Hendricks. Sie checkt beispielsweise: Welche Hilfsmittel gibt es schon? Welche Therapien laufen? Welche Medikamente wurden verschrieben und können möglicherweise abgesetzt werden? Außerdem werden "die Neuen" beim Einzug vom sogenannten Eingangskonsil empfangen: Dort sprechen Therapeut*innen, Mediziner*innen, Apotheker*innen und Pflegekräfte gemeinsam über die Person und deren Bedürfnisse und formulieren einen Behandlungsplan, in dem es nicht nur darum geht, den körperlichen und seelischen Zustand der Person zu festigen, sondern im besten Fall zu verbessern.
Der langjährige geschäftsführende Pflegedienstleiter im Haus Ruhrgarten, Oskar Dierbach, sagt: "Wir wollen nicht das Ende des Weges sein, sondern die Selbstständigkeit und Zufriedenheit der Menschen fördern."
Mehr als satt und sauber
Im Wesentlichen entwickelt wurde dieses besondere Pflegemodell vom langjährigen geschäftsführenden Pflegedienstleiter Oskar Dierbach. "Es geht doch darum, was die alten Menschen noch können, und nicht, was sie nicht können", beschreibt er die Idee hinter seinem Konzept. Von dem Motto "satt und sauber" und dem Heim als "Abstellgleis" hält er gar nichts. "Wir wollen nicht das Ende des Weges sein, sondern die Selbstständigkeit und Zufriedenheit der Menschen fördern."
Jahrelang hat Dierbach für sein neuartiges Konzept gestritten. Mittlerweile hat es sogar einen Namen: Sektorenübergreifende gerontopsychiatrische Behandlung und Rehabilitation in Pflegeheimen, kurz "SGB Reha". Unter diesem Titel wird der innovative Ansatz seit Sommer 2022 bundesweit und stufenweise bis 2026 in zwölf Pflegeeinrichtungen eingeführt und ausgewertet. Möglicherweise hat die therapeutisch-rehabilitative Pflege im Anschluss das Potenzial, flächendeckend als neuer Behandlungsstandard in der stationären Langzeitpflege etabliert zu werden. Verantwortlich für das Projekt "SGB Reha" ist die AOK Rheinland/Hamburg. Der Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses, der Projekte mit neuem Versorgungsansatz fördert, finanziert das Projekt für vier Jahre mit rund 5,6 Millionen Euro.
Gebrechlichkeit bringt Geld
Das Thema Finanzierung spielt im Pflegesystem eine große Rolle. "Ein hoher Pflegegrad bringt den Heimen viel Geld", erklärt Kathrin Hendricks. "Man könnte also böse sagen: Die Pflegekassen belohnen die Defizite und die Gebrechlichkeit der alten Menschen mit Geld, nicht aber deren Ressourcen."
Weil die Evangelische Altenhilfe in Mülheim an der Ruhr in ihren beiden Häusern die rehabilitative Pflege entwickelt und etabliert hat, gibt es dort 7,5 Vollzeitstellen mehr als in vergleichbaren Einrichtungen. Refinanziert werden diese zusätzlichen Stellen von der Pflegekasse. Außerdem sind die Eigenanteile höher als anderswo: je nach Pflegegrad zwischen 3800 und 4200 Euro. Dennoch ist die Warteliste in beiden Häusern lang und leben dort nicht nur reiche Menschen, sagt Kathrin Hendricks. Wer nicht über das nötige Geld verfüge, bei dem springe eben das Sozialamt ein. Außerdem gibt es einen sehr aktiven Förderverein, der therapeutische Angebote bezahlt, die nicht durch den Heimkostensatz gedeckt sind.
Die Bewohner*innen blicken aus dem verglasten Essbereich direkt auf die Ruhr.
Trainingsziele stecken
"Ich kann hier so viele Dinge ausprobieren und hätte nie gedacht, dass ich wieder so weit komme", erzählt Edelgard Müller gegen Ende des Besuchs in der verglasten Cafeteria mit direktem Blick auf die Ruhr. Der Fluss ist gleichzeitig Trainingsstrecke des benachbarten Rudervereins. Oft schaue sie den Sportlern beim Training zu, sagt sie. Und dann erzählt sie von dem Trainingsziel, das ihr Sohn ihr gesteckt habe: "Mama, du übst noch so lange, bis du mir auf dem Flur allein entgegenläufst."
Text und Fotos: Verena Bretz