Energiekrise
Durchatmen kann Marion Kemper schon lange nicht mehr. Die Leiterin der Schuldnerberatungsstelle der Evangelischen Kirchengemeinde in Bottrop ist seit der Corona-Pandemie dabei "Mangel zu verwalten", wie sie es ausdrückt. "Es geht nicht mehr in erster Linie darum, die Menschen von ihren Schulden zu befreien, sondern zu schauen, dass keine neuen Schulden entstehen. Wie kann man den Lebensunterhalt sicherstellen?" Geld, um in Raten die bereits aufgelaufenen Schulden zu bedienen, bliebe bei vielen kaum übrig.
Zehn bis zwölf neue Anfragen bekommen sie und ihre vier Kolleg*innen pro Woche. Wer Hilfe braucht, kann sich in der offenen Telefonsprechstunde melden. Ratsuchende, die in ihrer Existenz bedroht sind, bekommen innerhalb von zwei Wochen einen Termin. Für die umfassende finanzielle Sanierung in einem Insolvenzverfahren gibt es eine Warteliste.
Im vergangenen Jahr wurden 530 Menschen in Bottrop beraten – sogenannte Kurzberatungen sind nicht mit eingerechnet. Damit liegt die Einrichtung, in der sich alle Menschen unabhängig vom Einkommen kostenfrei Hilfe suchen können, im deutschlandweiten Trend. Das zeigen die Ergebnisse der beiden bundesweiten Online-Umfragen der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV). Seit 2021 ist in rund zwei Dritteln der Beratungsstellen die Nachfrage um rund 30 Prozent gestiegen. In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz gaben mehr als 70 Prozent der diakonischen Einrichtungen an, dass Beratungen deutlich zugenommen haben.
Zuhören und Ängste nehmen: Das Team der Bottroper Schuldnerberatungsstelle hilft den Menschen dabei, einen roten Faden im Schuldenberg zu finden.
Soziale Schieflage
Normalerweise sind in Bottrop dreiviertel derjenigen, die Hilfe suchen, Menschen, die von staatlicher Unterstützung leben müssen. "Das sind Arbeitslosengeld-Empfänger*innen und Bürger*innen, die Wohngeld oder Sozialhilfe beziehen", sagt Marion Kemper, die seit 36 Jahren als Schuldnerberaterin arbeitet. Seit einigen Monaten verändere sich das. "Ich schätze, dass schon jetzt 50 Prozent unserer Klienten zur sogenannten Mittelschicht gehören."
Inflation, Corona-Pandemie und die gestiegenen Energiekosten treiben immer mehr Menschen in die Schuldenfalle. Während im vergangenen Jahr in rund 28 Prozent der Beratungsgespräche bundesweit zu Miet- und Energiekosten beraten wurde, waren es im März 2022 bereits 32 Prozent. In NRW und in Rheinland-Pfalz ist der Anstieg noch deutlicher: Die Anfragen zu Miet- und Energiekosten haben sich in den diakonischen Beratungsstellen in NRW vervierfacht von elf Prozent auf 43 Prozent. In Rheinland-Pfalz waren es vor einem Jahr noch sieben Prozent der diakonischen Beratungen. Im Frühjahr dieses Jahres ging es in jeder zweiten Beratung auch um Miet- und Energiekosten.
Im Winter könnte es knapp werden: Zwar sind die deutschen Gasspeicher zu 75 Prozent gefüllt, es könnte aber dennoch eng werden. Die Speicher sollen die Preise auf dem Gasmarkt abfedern.
Gasumlage trifft fast jeden zweiten Haushalt
"Die extreme Verteuerung eigentlich aller Aspekte des täglichen Lebens zeigt ganz deutlich: Hier geht es nicht um den Einzelnen, der vermeintlich nicht mit Geld umgehen kann. Wir steuern gerade auf eine existenzielle gesamtgesellschaftliche Katastrophe hin, die das Potenzial hat, Deutschland zu erschüttern", sagt Petra Köpping, Diakonie RWL-Referentin für Schuldner- und Insolvenzberatung.
Viele Energieanbieter haben angekündigt, ihre Tarife um mehr als 40 Prozent anzuheben. Hinzu kommt die gerade beschlossene Gasumlage, die bei einem Vier-Personen-Haushalt rund 500 Euro pro Jahr ausmachen wird. "Jede zweite Heizung in Deutschland wird mit Gas betrieben", erklärt Petra Köpping. "Ich habe den Eindruck, dass vielen – und darunter auch einigen Politiker*innen – zwar bewusst ist, wie dramatisch die Lage ist, sie jedoch in einer besorgten Schockstarre verharren, statt zu handeln."
Jetzt Solidarität zeigen: Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann fordert die Politik auf, gezielt Menschen mit geringen Einkommen zu entlasten.
Energiepauschale reicht nicht
Es ist eine Katastrophe mit Ansage. "Wir brauchen jetzt eine zielgenaue und wirkungsvolle Entlastung einkommensarmer Haushalte", betont Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann. Für den Landesverband hat er den an die Politik gerichteten Aufruf zu mehr Solidarität mit den Schwächsten der Gesellschaft unterzeichnet, den rund 1.000 prominente Vertreter und Vertreterinnen aus Freier Wohlfahrtspflege, Gewerkschaften, Kirche, Wissenschaft und Kultur unterstützen. Die Bundesregierung müsse gezielt Geringverdiener, Rentner*innen und alle Menschen, die Sozialleistungen erhalten, entlasten. Die 300 Euro Energiepauschale, die jedem Erwerbstätigen zusteht, reiche zum einen nicht aus, zum anderen würden damit auch Haushalte unterstützt, die eigentlich keiner Hilfe bedürfen.
Fast 30 Milliarden Euro wurden bislang für die beiden Entlastungspakete ausgegeben. Expert*innen schätzen, dass davon bislang nur zwei bis drei Milliarden Euro bei den finanziell besonders Benachteiligten angekommen seien. "Solidarität heißt jetzt, für Geringverdiener, Sozialhilfeempfänger und Rentner*innen einzustehen. Dafür müssen die oberen Prozent der Gesellschaft deutliche Abstriche machen", fordert Christian Heine-Göttelmann.
Was zuerst bezahlen: Die Schuldnerberatungsstellen helfen Betroffenen dabei, Ordnung ins Chaos zu bringen.
Moratorien für Stromsperren
Was bedeutet das konkret? Wenn es nach Marion Kemper geht, wären Moratorien für Strom- und Gassperren ein erster Schritt. "Bislang können wir unsere Klient*innen nur bedingt beruhigen. Wir müssen mit den Städten und Energieversorgern ins Gespräch kommen und verbindliche Lösungen finden."
Konkrete Ansprechpartner für Notfälle sollten von Energieversorgern und Wohnungsgesellschaften benannt werden müssen, damit die Beratungsstellen kurzfristig verbindliche Vereinbarungen für ihre Klient*innen erzielen können, ergänzt Petra Köpping. Und dann sei da noch die Berechnung für die Übernahme der Heizkosten. Behörden wie Jobcenter und Sozialämter nähmen oft den Vorjahresverbrauch als Grundlage für ihre Berechnung. "Das passt in diesem Jahr natürlich hinten und vorne nicht", so die Schuldnerexpertin. Die zu erstattenden Heizkosten müssten realistisch anhand der aktuellen Energiepreise berechnet werden.
Viele blicken düster in Richtung Winter. "Die Jahresabrechnungen werden sehr schwierig, aber unsere Klientinnen und Klienten sind resilient – das gibt mir etwas Hoffnung", sagt Marion Kemper. Für sie und ihre vier Kolleginnen und Kollegen in Bottrop steht fest, dass sie an der Seite der Betroffenen bleiben: Sie werden weiterhin zuhören, Ängste nehmen, sortieren und in dem Schuldenberg einen roten Faden finden.
Text: Ann-Kristin Herbst, Fotos: Pixabay, Fotolia, Andreas Endermann, privat, AdobeStock.
Soziale Hilfen
Zu den Umfragen
Im Spätsommer 2021 und im Frühjahr 2022 hat die Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatungsstellen der Verbände (AG SBV) zur Online-Umfrage aufgerufen. Die Diakonie RWL hat jetzt erstmals die Ergebnisse der bundesweiten Umfragen für Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ausgewertet. Mit dem Ergebnis, dass beide Bundesländer stärker als im bundesweiten Vergleich vom Anstieg der Beratungsanfragen und den Beratungen zu Miet- und Energiepreisen betroffen sind. Die AG SBV vertritt etwa 1.400 gemeinnützige Schuldnerberatungsstellen in Deutschland. Diese sind in Trägerschaft der Verbraucher- und Wohlfahrtsverbände oder der Kommunen bzw. Mitglied in einem der Verbände (Deutscher Caritasverband, Diakonie Deutschland, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz, Verbraucherzentralen).