Ukraine-Geflüchtete erhalten Hartz IV
Beim Bund-Länder-Treffen am 7. April wurde beschlossen, dass allen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine ab Juni Zugang zu Hartz IV gewährt werden soll. Heißt: Sie erhalten automatisch Anspruch auf Leistungen nach den Sozialgesetzbüchern (SGB) II oder XII. Die Kosten dafür trägt der Bund. Damit werden Ukraine-Flüchtlinge anerkannten Asylbewerbern anderer Herkunft gleichgestellt. Wir haben mit Jens Rautenberg über die Vor- und Nachteile des geänderten Verfahrens gesprochen.
Haben Sie mit diesem Beschluss gerechnet?
Jens Rautenberg Auf jeden Fall kam er nicht überraschend. Schon einige Tage zuvor hatte sich angedeutet, dass man den Wechsel weg vom Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) hin zum SGB II/SGB XII anstrebt. Die wesentliche Triebfeder dabei ist ganz offensichtlich die veränderte Finanzierungslage. Denn die Leistungen nach dem AsylbLG übernimmt die Kommune, die Leistungen nach SGB II/XII hingegen übernimmt der Bund. Die Umstellung bedeutet also eine Entlastung für die Kommunen und das Land.
Was bedeutet der Beschluss für die Geflüchteten aus der Ukraine?
Jens Rautenberg Aus finanzieller Sicht bedeutet er mehr Geld, nämlich für Alleinstehende rund 80 Euro mehr im Monat. Allgemeiner formuliert erleichtert das neue Verfahren die Integration der Ukraine-Flüchtlinge und bietet ihnen deutlich bessere Möglichkeiten zur Teilhabe. Sie können beispielsweise direkt zu den entsprechenden Stellen gehen - etwa zum Jobcenter, um dort Fördermaßnahmen zu beantragen - und müssen nicht mehr alles zuerst über die kommunalen Sozialämter regeln.
Geflüchtete aus der Ukraine können ab Juni unkomplizierter Fördermaßnahmen beantragen, etwa beim Jobcenter.
Gibt es weitere Vorteile?
Jens Rautenberg Die Geflüchteten sind gesundheitlich besser versorgt. Nach dem AsylbLG sind sie nicht Mitglied in einer Krankenkasse, sondern bekommen auf Antrag Behandlungsscheine von der Kommune, über die sie versichert sind. Mit der neuen Regelung sind sie hingegen krankenversichert.
Ein anderes Beispiel: Pflegebedürftige können sich unmittelbar an einen entsprechenden Träger wenden, wenn sie ambulante oder stationäre Pflege benötigen. Auch hier fällt künftig der Weg über das Sozialamt weg.
Das alles hört sich gut an. Dennoch gibt es auch Kritik.
Jens Rautenberg Ja, und diese Kritik teile ich. Denn hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Ich würde mir wünschen, dass die Möglichkeiten, hier in Deutschland Fuß zu fassen, für alle Geflüchteten erleichtert werden - und nicht nur für die Menschen aus der Ukraine. Derzeit ist es so, dass Geflüchtete anderer Herkunft, etwa aus Syrien oder Afghanistan, über Monate in Sammelunterkünften leben und manchmal drei bis vier Jahre auf ihre Anerkennung warten müssen. Bei ihnen beginnt die echte Integration dann erst mit dem Moment ihrer Anerkennung, bis dahin verharren diese Menschen im Wartemodus. Das ist vergeudete Zeit, die man besser für deren Eingliederung nutzen könnte.
Können Sie die beschriebenen Unterschiede trotzdem nachvollziehen?
Jens Rautenberg Dass man bei Ukraine-Flüchtlingen anders vorgeht, kann man in gewisser Weise vor dem Hintergrund der EU-Solidarität nachvollziehen. Immerhin grenzen vier EU-Staaten unmittelbar an die Ukraine. Diese in der sogenannten EU-Massenzustromrichtlinie angelegte Begründung akzeptiere ich auch. Aber in einem zweiten Schritt muss man meiner Meinung nach gründlich darüber nachdenken, ob man - zumindest in der Integrationsfrage - wirklich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft und eine Benachteiligung anderer Schutzsuchender will. Vor allen Dingen: Syrische Geflüchtete haben unter den gleichen russischen Waffen gelitten, auch sie haben ein Recht auf Hilfe. Warum macht man da so einen Unterschied? Das schlichte Argument „Syrien ist so weit weg“ zählt meiner Meinung nach nicht.
Die Mitarbeitenden in den Beratungsstellen erklären den Geflüchteten, warum sie möglicherweise anders behandelt werden.
Wirkt sich eine mögliche Tendenz zur Zwei-Klassen-Gesellschaft auf die Flüchtlingsarbeit vor Ort aus?
Jens Rautenberg Für die Mitarbeitenden in unseren Beratungsstellen ist es natürlich teilweise schwierig, wenn sie etwa im Wartebereich Menschen haben, die mitbekommen, dass sie unterschiedlich behandelt werden. Das kann durchaus zu Unmut führen, den die Mitarbeitenden dann abfedern, indem sie die Situation erklären.
Mir ist aber nicht bekannt, ob es eventuell schon größere Proteste wegen einer möglichen Bevorzugung ukrainischer Geflüchteter gegeben hat.
Lässt sich das Problem der Ungleichbehandlung lösen?
Jens Rautenberg Dass wir Geflüchtete aufnehmen, ist das Mindeste, was wir tun können. Meiner Meinung nach ist es jedoch illusorisch, alle Schutzsuchenden rechtlich nun so zu stellen wie jetzt die Ukraine-Flüchtlinge. Auch Prüfverfahren zu den Fluchtgründen wird es weiterhin geben. Eine andere Forderung halte ich jedoch im Moment für wichtig, um diese Zwei-Klassen-Gesellschaft zu vermeiden und die Geflüchteten schneller zu integrieren: Zumindest im sozialen Bereich sollte man wirklich darüber nachdenken, das AsylbLG schlichtweg abzuschaffen. Im Übrigen: Dieses Gesetz wurde in den 1990er Jahren bewusst als Abschreckungsinstrument eingerichtet.
Grundsicherung für alle Geflüchteten würde deren Integration erleichtern, sagt Jens Rautenberg.
Das müssen Sie bitte genauer erklären...
Jens Rautenberg Vielen Geflüchteten wurde unterstellt, dass sie nur wegen der Sozialhilfe zu uns kommen. Aber wir sollten mittlerweile gelernt haben und endlich einsehen, dass geringe Leistungen und die Unterbringung in Massenunterkünften als quasi abschreckende Maßnahmen überhaupt nichts bringen und auch nie funktioniert haben.
Denn fast alle Geflüchteten kommen nicht wegen des Geldes, sondern weil sie schlicht Angst um ihr Leben haben. Daher sollte man auf lange Sicht wirklich prüfen, ob nicht eine Grundsicherung für alle Geflüchteten realisierbar ist, um deren Integration zu erleichtern. Für die Betroffenen würde das eine echte Chance bedeuten - und auf dem Arbeitsmarkt werden die Leute händeringend gesucht.
Das Interview führte Verena Bretz, Fotos: pixabay, Frank Schultze/DKH, Verena Bretz, Freie Wohlfahrtspflege NRW, Shutterstock.
Flucht Migration Integration
Vorher - nachher
Die bisherige Praxis sieht vor, dass Geflüchtete aus der Ukraine als anerkannte Kriegsflüchtlinge laut Aufenthaltsgesetz noch unter das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) fallen. Damit stehen beispielsweise einem Alleinstehenden pro Monat 367 Euro zu. Beim Bund-Länder-Treffen am 7. April wurde beschlossen, dass allen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine ab Juni Zugang zu Hartz IV gewährt werden soll. Der Hartz-IV-Satz für erwerbsfähige Ukrainerinnen und Ukrainer läge bei 449 Euro im Monat.