9-Euro-Ticket
Wenn Dieter Bress mit seiner blauen Weste am Hagener Hauptbahnhof unterwegs ist, wird er meist sofort angesprochen. "Die Menschen kommen von selbst, wenn sie sehen, dass ich von der Bahnhofsmission bin", erzählt der Ehrenamtliche. "Und die, die sich nicht trauen, aber Fragezeichen im Gesicht haben, spreche ich an."
Menschen mit Fragen sind derzeit besonders viele im Bahnhof unterwegs. "Mit dem 9-Euro-Ticket sind viele Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben am Bahnhof unterwegs", erzählt Dieter Bress. "Sie wissen nicht, was ein Gleis ist und wie sie dorthin kommen. Oder wo der Schienenersatzverkehr abfährt." Er hat auch beobachtet, dass viele Menschen unsicher sind, welche Züge sie benutzen dürfen. Das führt zu insgesamt viel mehr Anfragen, berichtet die Leiterin der Bahnhofsmission, Ilona Ladwig-Henning: "Wir haben deutlich mehr Ein- und Ausstiegshilfen sowie Begleitungen im Zug."
Deutlich mehr Anfragen
Ähnlich sieht es in Aachen aus. "Wir haben mindestens doppelt so viele Anfragen", erzählt die Leiterin der Bahnhofsmission, Elke Schreiber. Die Anliegen sind sehr unterschiedlich: Von der Suche nach der barrierefreien Toilette über Wasser für Hunde bis zur Frage, wo es das 9-Euro-Ticket zu kaufen gibt.
Immer wieder erfährt die Aachenerin dabei von besonderen Schicksalen: "Neulich hat sich ein junger Mann gemeldet, der sterbenskrank ist. Mit dem 9-Euro-Ticket kann er jetzt endlich noch einmal verreisen und Freunde und Familie treffen." Doch er benötigt Unterstützung, die Reise zu organisieren. Der Hirntumor macht es ihm unmöglich, sich längere Zeit am Stück zu konzentrieren. Bei Elke Schreiber und ihrem Team landete er an der richtigen Stelle: "Eine Ehrenamtliche hilft ihm jetzt, die Route zu planen", erzählt sie.
Hauptamtliche Leitungen wie Ilona Ladwig-Henning in Hagen koordinieren, fördern und unterstützen die Ehrenamtlichen bei den Bahnhofsmissionen.
Geld für Hauptamtliche
Dass mehr Menschen Rat bei den Bahnhofsmissionen suchen, lässt sich landesweit beobachten. "Immer mehr Menschen suchen Unterstützung bei den Bahnhofsmissionen", sagt Karen Sommer-Loeffen, die für Bahnhofsmissionen zuständige Referentin beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL). "Auch in Zukunft wird der Bedarf an Hilfen parallel zur zunehmenden Mobilität weiter steigen." Ob eine Fluchtsituation, Arbeitslosigkeit, psychische Krankheiten, Altersarmut oder die Suche nach einem Platz zum Schlafen – die Hilfsbedürftigkeit wächst mit den gesellschaftlichen Herausforderungen. Das spiegelt sich auch in den Bahnhofsmissionen wider. Auch die vielen Unwetterkatastrophen, die die Züge zum Stillstand bringen, machen die Hilfe der bundesweit 104 Bahnhofsmissionen notwendig.
"Wir brauchen für die zahlreichen, oft sehr komplexen Fragen dringend hauptamtliche Mitarbeitende – in allen 25 Bahnhofsmissionen in NRW", betont die Diakonie RWL-Expertin. Hauptamtliche schulen und koordinieren die Ehrenamtlichen, zudem stellen sie die Qualität in den Einrichtungen sicher. "Die neue Landesregierung sollte diese wichtige Arbeit mit jährlich rund 1,5 Millionen Euro unterstützen", fordert Karen Sommer-Loeffen. "Damit könnten wir in allen Bahnhofsmissionen in NRW hauptamtliche Leitungen finanzieren." Bislang werden sie aus eigenen Mitteln bezahlt. Eine gesicherte Finanzierung gibt es nicht, so dass Spenden eine wichtige Rolle spielen.
Sabine Bergmaier (links) und Bernhard Rüther (rechts) bei der Essensausgabe in der Bahnhofsmission Paderborn.
Sommer voller Baustellen
Auch in Paderborn haben die Mitarbeitenden der Bahnhofsmission alle Hände voll zu tun. Neben den vielen Menschen, die in den Sommerferien mit dem Zug verreisen und das 9-Euro-Ticket nutzen, stehen in der Region bis September besonders viele Baustellen an. Fast alle Strecken werden abwechselnd durch Busse ersetzt. Es fährt also Schienenersatzverkehr, der teils schwer zu finden ist, wie Bahnhofsmissions-Leiterin Sabine Bergmaier berichtet. "Unsere Ehrenamtlichen stehen deshalb jetzt überwiegend vor den Bahnhöfen und helfen, dass die Menschen in die richtigen Busse einsteigen. Bis zu 120 Fragen beantworten wir dazu am Tag."
Bernhard Rüther steht in seiner Schicht deshalb derzeit vor dem Bahnhof im benachbarten Altenbeken und wartet auf ankommende Busse und Züge. "Die Menschen, die Rat suchen, sind bunt gemischt: Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, Ältere oder junge Menschen, die mit ihrem Handy so beschäftigt waren, dass sie nicht auf Durchsagen geachtet haben", erzählt der 53-Jährige, der sich seit neun Jahren bei der Bahnhofsmission Paderborn engagiert.
Mehr neue Gesichter
Außerdem läuft in den Einrichtungen das Alltagsgeschäft weiter: Viele Menschen fragen in den Bahnhofsmissionen, wo sie übernachten können, andere nach medizinischer Versorgung. "Ganz oft möchten sich die Menschen auch einfach nur so mit uns unterhalten", erzählt die Aachenerin Elke Schreiber. "Unsere Arbeit an sich hat sich nicht verändert – es kommen nur mehr unbekannte Menschen, die unsere Hilfe suchen."
Hinzu kommt, dass die Ehrenamtlichen in Aachen immer noch Geflüchtete aus der Ukraine begleiten. "Das ist immer noch akut", berichtet die Sozialarbeiterin Elke Schreiber. Als Grenzstadt spielt Aachen dabei eine wichtige Rolle: Viele Menschen aus der Ukraine wollen über Aachen nach Brüssel weiterreisen.
Verspätungen und Zugausfälle stressen Arbeitnehmer*innen, berichtet Ilona Ladwig-Henning. Sie behält die Fahrtzeiten im Blick.
Frust und Dank
"Für die arbeitende Bevölkerung ist Bahnfahren im Moment Stress pur", berichtet die Hagenerin Ilona Ladwig-Henning. "Die Bahn ist im Moment so unzuverlässig." Verspätungen und Ausfälle können für Berufstätige ernste Folgen haben. "Ich habe am Gleis eine Frau getroffen, die mit dem Zug von Werdohl nach Hagen zur Arbeit fährt. Wegen der vielen Verspätungen steht sie kurz vor einer Abmahnung", erzählt die Sozialarbeiterin.
Dass Menschen wegen der vielen rappelvollen Züge frustriert sind, spüren auch die Ehrenamtlichen. Der Altenbekener Bernhard Rüther kennt es, dass die Leute mal ihre Wut rauslassen. "Fast alle Menschen sind aber dankbar, dass wir ihnen helfen", betont er. Auch Dieter Bress hilft, schlechte Stimmung aufzufangen: "Dann bin ich kurz Blitzableiter, aber danach geht es wieder."
Beide Ehrenamtliche sehen das 9-Euro-Ticket dennoch positiv: "Endlich können Menschen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, die sich Reisen vorher nicht leisten konnten", lobt Dieter Bress. "Eine Familie hat uns erzählt, dass sie nach Oberhausen fahren möchte. Andere besichtigen erstmals die Burg Altena. Es sind auf einmal so viele Ausflüge möglich!" Die Einrichtungsleiterin Ilona Ladwig-Henning fordert eine Perspektive nach dem Ende des 9-Euro-Tickets: "Für Bedürftige sollte das Ticket weitergeführt werden."
Die Mitarbeitenden der Bahnhofsmissionen freuen sich, zu helfen, betont Elke Schreiber.
Tipps für eine gute Reise
Nicht zu früh losfahren, rät die Paderbornerin Sabine Bergmaier: "Besser ist es, den Berufsverkehr abzuwarten. Außerdem sollte sich jeder vor der Reise informieren, ob es Änderungen oder Baustellen gibt." Für die Hagener hängt die Reise von der Richtung ab, sagt Dieter Bress. "Die Züge nach Köln sind nahezu immer voll, nach Düsseldorf können Sie Glück haben."
Für eine angenehme Reise in der Ferienzeit rät die Aachenerin Elke Schreiber außerdem, sich früh genug bei der Bahnhofsmission zu melden, wenn man Hilfe benötigt. "Die Menschen brauchen keine Scheu zu haben, uns anzusprechen", betont die 59-Jährige. "Alle Bahnhofsmissionen sind dazu da, um zu helfen."
Das ist auch die Motivation von Dieter Bress: "Ich helfe gerne Menschen", sagt der 65-Jährige. "Und ich wollte immer zur Bahn." Als er in den Job startete, stellte die Bahn aber gerade niemanden ein – also arbeitete Bress 30 Jahre bei einer Bildungseinrichtung. Als Pensionär konnte er sich endlich seinen Traum erfüllen und ist seit zwei Jahren regelmäßig im Umfeld des Bahnhofs unterwegs.
Auch wenn der Sauerländer die blaue Weste ablegt und mit dem Zug zurück zu seinem Wohnort Finnentrop fährt, gibt er weiter Reisetipps. "Oft stehen Menschen ratlos im Zug, dann helfe ich selbstverständlich weiter."
Text: Jana Hofmann, Fotos: Diakonie RWL, Bahnhofsmission Aachen, In Via Paderborn.
Ehrenamt / Freiwilliges Engagement
Viele Bahnhofsmissionen befinden sich in gemeinsamer Trägerschaft von Diakonie und Caritas und haben ein bis zwei hauptamtliche Leitungen – meist Sozialarbeiterinnen. Die anderen Mitarbeitenden engagieren sich dort ehrenamtlich. Eine gesicherte Regelfinanzierung gibt es nicht, so dass die Spendenakquise eine wichtige Rolle spielt.
Die erste Bahnhofsmission wurde 1894 am Berliner Ostbahnhof eröffnet. Junge Frauen, die vom Land in die Städte zogen, sollten vor Ausbeutung und Zwangsprostitution geschützt werden. An fast allen wichtigen Knotenpunkten des Schienennetzes gründeten sich in den folgenden Jahren Bahnhofsmissionen. Heute gibt es bundesweit 104 Bahnhofsmissionen.