24. Juni 2015

Landesarmutstagung in Rheinland-Pfalz

Viel Reichtum, aber auch mehr Armut

Mehr Jobs, ein höheres Einkommen und viele Immobilienbesitzer – Der neue Armuts- und Reichtumsbericht der rheinland-pfälzischen Landesregierung zeigt, dass das Land im bundesweiten Vergleich ökonomisch gut da steht. Doch die positive wirtschaftliche Entwicklung geht mit einem steigenden Armutsrisiko insbesondere für Alleinerziehende, ältere Menschen und Jugendliche einher. Auf einer Tagung diskutierten jetzt 140 Experten aus der sozialen Arbeit, Verbänden und Politik über den aktuellen Bericht.

Moderator Ralph Szepanski, Landespfarrer Albrecht Bähr, Ministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler im Gespräch

Moderator Ralph Szepanski, Landespfarrer Albrecht Bähr, Ministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler im Gespräch

„Armut wird durch eine positive Entwicklung der Wirtschaft nicht mehr abgebaut, sondern verschärft sich“, bilanzierte der Vorsitzende der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Rheinland-Pfalz, Albrecht Bähr, am 22. Juni auf der Expertentagung in Mainz. Eingeladen hatte das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie des Landes Rheinland-Pfalz gemeinsam mit der LIGA der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege.

Mehr Leidenschaft für Teilhabe gefordert

Nikolaus Immer, Heike Strack bei einem Vortrag

Nikolaus Immer, Heike Strack

„Der jetzt vorliegende Bericht bestätigt, was die Wohlfahrtsverbände aus ihrer täglichen Beratungsarbeit, Stadtteiltreffs und den Beschäftigungsträgern, aus der Schulsozialarbeit sowie der Altenhilfe kennen: Die Armut nimmt in vielen Bereichen zu“, so Bähr weiter. Er kritisierte das geringe öffentliche Interesse für das Thema Armut. „Wir sind nicht wirklich eine solidarische Gesellschaft. Wir brauchen mehr Leidenschaft für Teilhabe aller Menschen in unserer Gesellschaft, Menschen, die sich gegen Ausgrenzung engagieren.“

Prof. Dr. Ernst Kistler am Mikrofon

Prof. Dr. Ernst Kistler

Dass es diese Leidenschaft an vielen Stellen schon gibt, betonte Nikolaus Immer, Vorsitzender der Kommission „Soziale Sicherung, Migration und Armutsbekämpfung“ der LIGA und einer der Sprecher der Landesarmutskonferenz. Er verwies auf viele gute Ansätze zur Förderung von Teilhabe in Rheinland-Pfalz, wie sie beispielhaft in dem von der LIGA mitverantworteten Teil des Landesarmutsberichts beschrieben sind. Etliche Modelle verdienten es, flächendeckend und nachhaltig realisiert zu werden, so Immer. Als Beispiel nannte er die Begleitung von Jugendlichen durch ehrenamtliche Bildungspaten in Cochem. Die Mittel für das Projekt werden von Kirchen und Landkreis gemeinsam aufgebracht.

Dringend erforderlich: Besteuerung der Reichen

Gespräch zischen Ralph Szepanski und Ministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler

Im Gespräch

Sozialministerin Bätzing-Lichtenthäler forderte auf der Tagung eine neue Debatte über die Verteilung und Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen. „Wir brauchen eine wirksamere Besteuerung der wirklich Reichen und die Entschlossenheit, zusätzliche Mittel für die Armutsbekämpfung einzusetzen“, sagte die Ministerin. Allein mit dem wirksamen Schließen von Steuerschlupflöchern ließen sich zusätzliche Einnahmen von 150 Milliarden Euro erzielen, so Bätzing-Lichtenthäler. „Unser Ziel muss sein, die Gesellschaft gleicher zu machen, denn das würde sich auf die gesamte Gesellschaft positiv auswirken.“

Ein Mann aus dem Publikum ist aufgestanden und spricht in das Mikrofon

Diskussion

Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung verwies in diesem Zusammenhang auf einen wenig beachteten Nebeneffekt einer Vermögenssteuer oder einer Erbschaftssteuer, die auch Betriebsvermögen berücksichtigt: Auf diese Weise könnten endlich genauere Erkenntnisse über die Verbreitung von Reichtum in Deutschland erworben werden. „Bislang tappen wir da komplett im Dunkeln“, so Grabka.

Fakten aus dem Armuts- und Reichtumsbericht

Der Armuts- und Reichtumsbericht 2015 diente dazu, Entwicklungen seit dem vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Landesregierung aus den Jahren 2009/2010 fortzuschreiben. Die Untersuchung wurde vom Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie beauftragt und vom Institut „Neue Frankfurter Sozialforschung“ (FaMa) und dem Internationalen Institut für Empirische Sozialökonomie (INIFES) durchgeführt. Wie bereits in den vorangegangenen Berichten schließt sich eine Darstellung verschiedener Verbände (LIGA der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, Deutscher Gewerkschaftsbund und – erstmals – Landesarmutskonferenz) an. Sie schildern auf der Basis ihrer Erfahrungen die Verbreitung und Auswirkungen von Armut und bewerten Maßnahmen gegen Armut.

Die präsentierten Daten konzentrieren sich in wesentlichen Teilen auf die Verbreitung relativer Armut. Als arm gelten danach Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens haben. Besonders von Armut bedroht sind bezogen auf das mittlere Einkommen in Rheinland-Pfalz für 2012 danach Erwerbslose (52 Prozent) und Alleinerziehende mit Kindern unter 18 Jahren (47,5 Prozent). Kinderreiche Familien mit drei oder mehr Kindern tragen ebenfalls ein erhöhtes Armutsrisiko (23,5 Prozent). Bei älteren Menschen über 65 Jahren lag die Quote 2012 bei 18,8 Prozent. Hier zeigten sich auch besondere Unterschiede zwischen Männern und Frauen (Männer: 14,7 Prozent, Frauen: 22,2 Prozent).

Zu wenig erforscht: Reichtum

Der Bericht beinhaltet aber nicht nur Daten zur Verbreitung von Armut, sondern auch ein eigenes Kapitel zu gehobenem Wohlstand und Reichtum in Rheinland-Pfalz. „Der strukturelle Zusammenhangs von Armut und Reichtum wird in dem Bericht deutlich angesprochen, viel deutlicher, als in allen anderen Sozialberichten, die mir bekannt sind“ erklärte dazu Professor Ernst Kistler, einer der Verfasser der Studie.

Über die sehr Reichen weiß man laut Kistler genauso wie über die sehr Armen zu wenig. Haushaltssurveys auf freiwilliger Basis und Einkommenssteuerstatistik greifen bei beiden Gruppen nicht mehr. Dies gilt besonders für die „Superreichen“: Über die Einkommenssituation von Personen und Familien mit Vermögen ab zweistelligen Millionenbeträgen lasse sich mit den für die Studie verfügbaren Daten nichts sagen, so der Professor. Er verglich den Reichtum mit der Körpergröße eines Menschen. Wenn eine Person mit mittlerem Einkommen 1,80 m groß sei, entspreche dies laut den zur Verfügung stehenden Daten einer maximale Körpergröße von etwa 35 Metern. „Das sind aber immer noch keine Reichen“, betont Kistler. „In Bayern würden wir sagen, der wohnt immer noch zwei Dörfer vom Tegernsee entfernt“. Bei den Superreichen sei in dem Bild eher von einer Körpergröße von 220 km und mehr auszugehen.

Öffentliche Armut verschlimmert private Armut

Der Professor forderte ein Mehr an Armuts- und Reichtumsberichterstattung in Deutschland, denn nur eine aufgeklärte Gesellschaft könne sich mit dem Thema Armut und Reichtum auseinandersetzen. Kistler regte an, häufiger kürzere Berichte mit ausgewählten thematischen Schwerpunkten erstellen zu lassen, ergänzt durch einen größeren Bericht einmal in der Legislaturperiode.

In den Diskussionsrunden wurde auf der Tagung wiederholt darauf hingewiesen, dass Auswirkungen von Armut nicht allein von der Einkommenshöhe abhängig sind, sondern etwa auch von der kommunalen Infrastruktur, der Quartiersgestaltung oder dem Vorhandensein von Unterstützungs-, Beratungs-, Bildungs- und Freizeitangeboten. „Die bessere Ausstattung der Kommunen ist ein wichtiger Schlüssel für die Sicherung von Teilhabe“, so Albrecht Bähr. Öffentliche Armut verschlimmere hingegen die Folgen privater Armut.

Nikolaus Immer sprach sich zum Abschluss der Veranstaltung für eine regionalisierte Fortsetzung des Armuts- und Reichtumsberichtes aus, um das Thema Armut langfristig auf der politischen Agenda zu halten. Die regionale Erfassung von ausgrenzenden und integrierenden Strukturen sollte in Kooperation von Kommunen und Verbänden erfolgen. LIGA und Landesregierung könnten diesen Prozess fördern und den Erfahrungsaustausch moderieren, schlug Immer vor.

Stimmen von Teilnehmenden

Sabine Altmeyer-Baumann Portrait

Sabine Altmeyer-Baumann

Sabine Altmeyer-Baumann

"Wir sind mit den 63 Tafeln in Rheinland-Pfalz und im Saarland täglich mit großer Armut konfrontiert. Wir helfen dabei Menschen sehr konkret in ihren Notlagen. Uns ist es aber genauso wichtig, bei der Suche nach politischen Lösungen mitzuarbeiten.
Herr Bähr hat das vorhin sehr gut ausgedrückt. Wir brauchen mehr Solidarität auf allen Ebenen, die Bereitschaft, füreinander verantwortlich zu handeln. Die Tafeln mahnen, fordern Gerechtigkeit und soziale Teilhabe für alle. Hier wollen wir auch die Sozialpolitik immer wieder an ihre Verantwortung erinnern. Es ist gut, dass auf dieser Veranstaltung über Armut gesprochen wird. Das sind Themen, die wir alle kennen. Sie müssen aber auch in konkretes politisches Handeln im Land und in den Kommunen übersetzt werden. Die Regierungsparteien hatten sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, einen Aktionsplan gegen Armut zu erstellen. Das ist noch nicht geschehen. Die Arbeit daran sollte jetzt sofort beginnen."

Sabine Altmeyer Baumann ist beim Landesverband der Tafeln RLP/Saarland e.V.

Dieter Groh-Woike Porträt

Dieter Groh-Woike Porträt

Dieter Groh-Woike

"Ich finde es wichtig, dass es einen solchen Armuts- und Reichtumsbericht für Rheinland-Pfalz gibt. Enttäuscht bin ich aber, dass die extremen Formen der Armut im Bericht kaum vorkommen, mit dem Hinweis, dass es keine Zahlen dazu gibt. Die Wohnungslosenhilfe in Rheinland-Pfalz fordert schon lange, dass es zumindest eine Wohnungsnotfallstatistik geben muss. Ich hoffe sehr, dass über die Verbreitung von Wohnungsnot und über die Situation von Menschen in extremer Armut mit den passenden Methoden ein eigener Bericht erstellt wird."

Dieter Groh-Woike ist verantwortlich für ambulante und stationäre Angebote in der Wohnungslosenhilfe der kreuznacher diakonie in der Stadt Idar-Oberstein und dem Kreis Birkenfeld

Wilfried Kehr Porträt

Wilfried Kehr Porträt

Wilfried Kehr

"Wir brauchen nicht nur einen Armuts- und Reichtumsbericht für das Land, sondern auch heruntergebrochen für die Kommunen. Im Westerwaldkreis sind die Kreisverwaltung und die LIGA-Verbände gerade dabei, einen solchen Bericht gemeinsam zu erstellen. Das wird dann schon der dritte Armutsbericht. Der erste wurde von der Kreisverwaltung alleine erstellt, der zweite mit Kommentaren der LIGA herausgegeben - und jetzt arbeiten wir gemeinsam daran. Dabei sollen auch konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet werden. Die gemeinsame Erstellung eines Armutsberichts in einem kommunalen Netzwerk scheint mir das beste Modell zu sein. Denn die Arbeit an einem solchen Bericht bewirkt ja immer auch eine Bewusstseinsförderung bei allen Beteiligten."

Wilfried Kehr leitet das Regionale Diakonische Werk im Westerwaldkreis

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