18. August 2023

Kindergrundsicherung

"Aus armen Kindern werden arme Erwachsene"

Wer bei Kindern spart, zahlt später drauf: Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie der Diakonie Deutschland. "Wir müssen alles dafür tun, Kinder und Jugendliche heute zu stärken", fordert Diakonie RWL-Armutsexpertin Heike Moerland. "Die Kindergrundsicherung ist dafür unverzichtbar." Denn wir können es uns – auch wirtschaftlich – nicht leisten, auf ein Viertel einer Generation zu verzichten.

  • Verzweifelter Junge sitzt in einer Zimmerecke.
  • Kind streckt die Füße aus und hat ein Loch im Schuh.
  • Eltern spielen mit ihrem Kind.

Die Kinderarmut ist in Deutschland seit Jahren hoch: Vor der Inflation war jedes fünfte Kind von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Mittlerweile ist diese Zahl wiederum gestiegen, wie das Statistische Bundesamt erst vor wenigen Wochen mitgeteilt hat. Jedes vierte Kind in Deutschland wächst jetzt in Armut auf. Was bedeutet das?

Heike Moerland: Armut bedeutet für die Kinder, dass sie nicht das tun können, was andere Gleichaltrige erleben: Sie können nicht im Sportverein sein, Musikunterricht nehmen oder das Kino besuchen. Kinder aus Familien mit höheren Einkommen müssen auch keine Ausreden erfinden wie "Ich kann nicht zu deinem Geburtstag kommen, weil ich zu meiner Oma muss" oder sind nicht "zufällig" krank, weil gerade etwas ansteht. 

Armut ist mit Scham behaftet: Die Kinder erleben in den Familien kontinuierlich, dass Geld – oder nicht vorhandenes Geld – eine Rolle spielt. Viele Kinder überlegen auch schon ganz genau, was sie ihren Eltern sagen, bevor sie sie überhaupt um Geld bitten. Natürlich gibt es Unterstützungsmöglichkeiten, die Familien beantragen können. Aber selbst die Bildungs- und Teilhabeleistungen werden nicht in vollem Umfang abgerufen. Die Leistungen sind oft nicht bekannt und die Anträge sind zu kompliziert.

Junge mit schmutzigem Gesicht.

In den alten Kohleregionen im Ruhrgebiet ist der Strukturwandel nur mäßig gelungen: Besonders viele Kinder sind hier von Armut bedroht. 

Das Diakonie RWL-Gebiet ist besonders von Kinderarmut betroffen.

Moerland: In Nordrhein-Westfalen – aber auch im Saarland – leben besonders viele Kinder in Armut. Im Ruhrgebiet ist der Strukturwandel nur mäßig gelungen. Wir haben viele Großstädte mit einem hohen Anteil an Menschen, die von Armut betroffen sind oder an der Armutsgefährdungsgrenze leben. Wir werden ein riesiges Problem in NRW haben, wenn wir es jetzt nicht schaffen, die Armut und die wachsende Ungleichheit in den Griff zu kriegen. Dann driftet die Gesellschaft immer weiter auseinander.

Was unternimmt der Staat, um Kinder und Jugendliche vor Armut zu schützen?

Moerland: Der Sozialstaat tut längst noch nicht genug gegen Kinderarmut, sonst hätten wir sie in dieser Form nicht. Die derzeitigen Sozialleistungen decken die Bedarfe von Kindern und Familien nicht. Die Sozialleistungen sind an den Lebensverhältnissen der unteren Einkommensklassen orientiert – also an denen, die sowieso schon wenig kriegen. Für die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen müssen wir uns aber an der gesellschaftlichen Mitte orientieren: Für Kinder ist es heutzutage zum Beispiel normal, spätestens ab der weiterführenden Schule ein Handy zu haben. Das ist kein Luxus, das ist einfach notwendig, um am Unterricht teilnehmen und gesellschaftlich teilhaben zu können. Das ist aber mit den aktuellen Regelsätzen kaum zu stemmen.

Was sind die Folgen von Kinderarmut?

Moerland: Studien zeigen, dass die Sozialleistungen nicht für eine gesunde Verpflegung ausreichen. Armut hat also viele langfristige Folgen für die Gesundheit und für die Lebenserwartung – und damit auch für unser Gesundheitssystem, das die Kosten tragen muss. Auch die Bildungschancen sind abhängig vom sozioökonomischen Status der Eltern. Kinderarmut ist Familienarmut: Der Großteil der Kinder, die in Armut aufwachsen, leben in Familien, die Sozialleistungen beziehen. Besonders betroffen sind auch Kinder Alleinerziehender und aus Familien mit drei und mehr Kindern.

Zwei Figuren stehen an der Kreuzung. Die Schilder zeigen in entgegengesetzte Richtungen: Chancen oder Armut.

Chancen ermöglichen oder Armut fortsetzen? Die Diakonie fordert eine Kindergrundsicherung, um allen jungen Menschen ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen.

Die Diakonie Deutschland und die Diakonie RWL fordern seit Jahren eine Kindergrundsicherung. Jetzt hat die Bundesregierung sie in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart. Was verstehen wir unter einer Kindergrundsicherung? 

Moerland: Die Kindergrundsicherung ist eine Chance, damit arme Kinder und Jugendliche aus einer Situation herauskommen können, für die sie selbst nichts können. Wir fordern seit vielen Jahren im Bündnis Kindergrundsicherung eine existenzsichernde Kindergrundsicherung, die bisherige Leistungen wie das Kindergeld bündelt. Das bedeutet, dass sie allen Kindern und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr zusteht. Alle erhalten einen Mindestbetrag von 354 Euro. Je geringer das Familieneinkommen ist, desto höher die Kindergrundsicherung: Familien ohne oder nur mit geringem Einkommen erhalten dann 746 Euro.

Was würde eine Kindergrundsicherung verändern? 

Moerland: Sie bündelt viele familienpolitische Maßnahmen und vereinfacht damit, dass sie tatsächlich bei den Familien ankommen. Die Kindergrundsicherung kann Armut effektiv bekämpfen und Kinder und Jugendliche so stärken, dass sie an der Gesellschaft teilhaben können. Sie würde auch verändern, dass Familien Vertrauen erleben: Der Staat vertraut darauf, dass ich oder dass wir als Familie gut für unsere Kinder sorgen. Sie würde verändern, dass wir aus bestehenden Leistungsbezieher*innen mündige Menschen machen und damit auch den Kindern das Gefühl geben, dass es nicht darauf ankommt, was ihre Eltern verdienen. Wir vermitteln dann den Kindern, die in Armut leben: "Du bist uns in der Gesellschaft wichtig."

Kritische Stimmen bezweifeln, dass das Geld tatsächlich bei den Kindern ankommt. Was ist da dran? 

Moerland: Ich finde es nicht richtig, den Familien zu misstrauen. Studien belegen, dass das Geld bei den Kindern ankommt. Untersuchungen und auch die Lebenserfahrung zeigen, dass Eltern alles für ihre Kinder tun und in allererster Linie in ihre Kinder investieren. Wir sollten den Eltern vertrauen, im Interesse und zum Wohle ihrer Kinder zu entscheiden. Eltern mit kleinem Einkommen sind genauso mündige Bürger*innen wie Eltern mit hohem Einkommen. Sie können sehr wohl selbst entscheiden, was das Beste für ihre Kinder ist.

Heike Moerland, Leitung Geschäftsfeld berufliche und soziale Integration der Diakonie RWL.

Setzt sich seit Jahren für eine Kindergrundsicherung ein: Heike Moerland, Leitung Geschäftsfeld berufliche und soziale Integration der Diakonie RWL. 

Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat anfangs für die Kindergrundsicherung zwölf Milliarden Euro vorgeschlagen. Das ist nach Berechnungen der Diakonie Deutschland nicht ausreichend: Notwendig wären mindestens 20 Milliarden Euro. Die Bundesregierung will aber bei vielen sozialen Projekten sparen. Können wir uns die Kindergrundsicherung überhaupt leisten? 

Moerland: Wir müssen sie uns leisten! Wir können es uns als Gesellschaft nicht leisten, nicht in Kinder zu investieren. Das belegt auch ein Gutachten der Diakonie Deutschland: Die Folgekosten von Kinderarmut sind enorm. Aus armen Kindern werden später arme Erwachsene. Wenn wir jetzt keine Kindergrundsicherung einführen, bestrafen wir die Kinder doppelt: Sie leben jetzt in Armut – und vermutlich später als Erwachsene ebenfalls. Das ist ungerecht und für unsere Wirtschaft schlecht. Je stärker die Kinder und Jugendlichen sind, je stärker sie sich später am Erwerbsleben beteiligen können, desto mehr Ressourcen hat die Gesellschaft später zur Verfügung für ein gesundes gesellschaftliches Zusammenleben.

Wenn wir jetzt nicht investieren, Kinder jetzt nicht stärken, werden wir dieses konstant hohe Armutsniveau weiterführen. Wir müssen unsere Gesellschaft am Laufen halten und nicht nur kurzfristige Sparziele erfüllen. Ich rate, das Thema auf einer langfristigen Zeitachse zu betrachten: Wenn wir jetzt in Kinder und Jugendliche investieren, dann sind sie in fünf, zehn oder 15 Jahren starke Erwachsene, die einen Job haben, Steuern zahlen und sich in die Gesellschaft einbringen.

Figuren an der Startlinie. Eine vierte Figur startet zeitversetzt. Aufschrift: Fairer Start für alle.

Kinder aus armen Familien haben schlechtere Startbedingungen. "Wir können es uns nicht leisten, auf ein Viertel einer Generation zu verzichten", so Diakonie RWL-Expertin Heike Moerland.

Die Kindergrundsicherung stärkt also den Zusammenhalt.

Moerland: Richtig. Wir brauchen eine starke Zivilgesellschaft und können es uns nicht leisten, den Kindern zu vermitteln, dass sie uns unwichtig sind. Das löst bei den Kindern – und den späteren Erwachsenen – aus: "Wenn ich nicht wichtig bin, muss ich mich auch nicht für die Gesellschaft engagieren." Wir können es uns, auch volkswirtschaftlich, nicht leisten, auf ein Viertel einer Generation zu verzichten.

Das Interview führte Jana Hofmann. Fotos: Diakonie RWL/Andreas Endermann, Diakonie Deutschland, Canva/eigene Darstellung