Berufliche Integration
2008 wurde das Church eröffnet. Seit 2009 sind Sie dabei. Was haben Sie davor gemacht?
Judith Sporken: Ich komme aus der Gastronomie, bin gelernte Restaurantfachfrau. Meine Ausbildung habe ich im 'Wasserbahnhof' in Mülheim absolviert. Danach war ich fast 20 Jahre im 'Alten Zollhaus' – ebenfalls in Mülheim. Die hatten zwei Jahre lang einen Stern. Ich war dabei, als sie ihn bekommen haben. Und auch, als sie ihn wieder verloren haben (lacht).
Wie sind Sie zum Church gekommen?
Sporken: Durch meine Kinder. Als sie klein waren, habe ich nur noch abends gearbeitet. Dann ist mein Sohn schwer erkrankt, ab da bin ich ganz raus. Als wir nach vier Jahren wussten, er ist 'safe', wollte ich wieder fest arbeiten, mir aber nicht mehr jede Nacht um die Ohren hauen. Und so schön der Beruf ist, er ist auch sehr oberflächlich. Ich habe etwas gesucht mit mehr Tiefe, mehr Sinn. Da ist mir die Anzeige vom Church über den Weg gelaufen, es wurde eine Restaurantfrau gesucht. "Halleluja, dich schickt der Himmel!", dachte ich.
Ist das Glas sauber? Restaurantleiterin Judith Sporken packt gerne an.
Wie sieht ein normaler Arbeitstag bei Ihnen aus?
Sporken: Wenn ich um 8.30 Uhr ankomme, schaue ich erst einmal, ob etwas dringend erledigt werden muss. Dann überprüfe ich die Tische im Gastraum. Außerdem checke ich, welche Cateringanfragen für den Tag eingeplant sind – manchmal sind es kleinere Aufträge, 20 Brötchen ins Bistum, manchmal auch größere.
Klingt erstmal nicht ungewöhnlich.
Sporken: Stimmt. Allerdings muss ich morgens auch schauen, wer da ist und wer nicht. Hier arbeiten viele Teilnehmer*innen im Rahmen von Arbeitsmaßnahmen, die nicht so belastbar sind. Das ist der Grund, warum sie nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt werden. Es kommt öfter die Nachricht: "Mir geht es nicht so gut. Ich komme heute nicht." Das heißt für mich: Wo muss ausgeholfen werden? Dann schmiere ich auch mal Brötchen mit oder helfe beim Putzen. Irgendwo brennt es hier eigentlich immer.
Schätzt den besonderen, sehr respektvollen Umgang miteinander: Restaurantchefin Judith Sporken.
Wie geht der Tag für Sie weiter?
Sporken: Um 9.00 Uhr beginnt das Frühstück. Meistens laufe ich dann vorne im Service mit. So lange, bis ich das Gefühl habe, meine Mitarbeitenden kommen allein zurecht. Und dann geht es für mich zurück an den Schreibtisch. Dort bearbeite ich Mails, bis das Mittagsgeschäft losgeht. Ich liefere oft aus – der Großteil meiner Teilnehmenden hat keinen Führerschein. Zum Mittagstisch im Restaurant bin ich auch dabei. Wenn ich sehe, dass wir gut aufgestellt sind, ziehe ich mich gegen 14 Uhr raus und setze mich wieder an meinen Schreibtisch. Oder ich fahre zu einem Catering. So um 18 Uhr ist dann gewöhnlich Feierabend – wenn nicht eine Abendveranstaltung dazwischenkommt.
Gibt es Unterschiede zu Ihren vorherigen Jobs?
Sporken: Hier schmeißt keiner eine Pfanne oder brüllt durch die Küche. Klar, in stressigen Zeiten geraten wir schon mal aneinander, aber wir gehen in der Regel sehr respektvoll miteinander um. Ansonsten ist bei uns viel Empathie gefragt. Die meisten Gäste wissen, wo sie hier sind: Dass es ein spezielles Projekt ist und dass hier Menschen arbeiten, die Einschränkungen haben oder noch nicht so viel Erfahrung. Natürlich kommen auch Kommentare wie: "Hören Sie mal, der junge Mann guckt mich gar nicht an!" Aber ich kann unserem Azubi auch kein Schild anstecken: "Bitte nehmen Sie Rücksicht, ich bin Autist!"
Zu Ihrem Arbeitsalltag gesellen sich zusätzlich noch jede Menge Einzelschicksale.
Sporken: Ja, die gehören dazu. Wir hatten schon mehrfach Autist*innen, Mitarbeitende mit Schizophrenie oder Mutismus, einen Schwerhörigen, Flüchtlinge, sozial benachteiligte Jugendliche sowie Mitarbeitende mit verschiedensten Suchtproblematiken und psychischen Erkrankungen. Es waren schon Jungs dabei, die sich keine Schuhe leisten konnten, oder junge Frauen, die mit blauem Auge zum Dienst erschienen sind. Oder welche, bei denen man wusste, wie sie nebenbei ihr Geld verdienen. "Magst du reden? Kann ich Dir irgendwie helfen? Möchtest Du das überhaupt?" Das sind so Gedanken, die man sich dann macht.
Ist das die Tiefe, die Sie gesucht haben?
Sporken: Absolut, die habe ich hier gefunden. Es ist ein Privileg, wenn man Menschen so begleiten darf. Hier muss man seine Probleme nicht verheimlichen. Man darf sie haben und kann relativ offen drüber sprechen. Hier gibt es kein Ellenbogendenken. Jeder kann irgendetwas gut – und wenn es nur ist: "Du hast eine tolle Handschrift! Schreib Du doch heute die Tafel und alle Gäste sehen das." Es sind oftmals Kleinigkeiten mit enormer Wirkung.
Aus Kolleginnen sind Freundinnen geworden: Lee Kiefer (links) hat lange Zeit im Church gearbeitet und kommt auch heute noch einmal die Woche ins Restaurant. Gerne auf einen Plausch mit Judith Sporken.
Müssen Sie viel Motivationshilfe leisten?
Sporken: Viele unserer Teilnehmenden sind anfangs unmotiviert. Wenn sie ankommen, sind sie an einem echten Tiefpunkt in ihrem Leben und haben ganz wenig Wertschätzung und Respekt erfahren. Sie haben lange Zeit nicht gearbeitet – aus verschiedensten Gründen. Manche hatten einen schweren Schicksalsschlag oder eine schwere Erkrankung. Wir zeigen ihnen: "Du bist wichtig. Und das, was Du hier machst, hilft uns. Es ist nicht egal, ob Du zuhause bist oder nicht. Wir brauchen Dich!"
Bestehen alle Auszubildenden ihre Prüfung?
Sporken: Nicht immer beim ersten Mal, manchmal braucht es auch einen zweiten oder dritten Anlauf. Da muss man wirklich schwitzen. Denn wenn der dritte Versuch scheitert, ist dieser Ausbildungszweig für sie geschlossen. Das gab es glücklicherweise bei uns noch nicht. Ich erinnere mich an einen Azubi, mit dem wir sehr mitgelitten haben. Als er endlich bestanden hatte, brachte er eine Flasche Champagner mit und wir haben alle angestoßen – inklusive der Stammgäste. Wenn die Azubis bestehen, sind wir einfach mega stolz. Selbst wenn sie den Beruf wechseln, haben sie zumindest eine abgeschlossene Berufsausbildung. Wir haben ihnen die Tür geöffnet!
Was machen Sie, wenn Sie mal nicht weiterwissen? Sind Sie im Diakoniewerk gut vernetzt?
Sporken: Wir sind hier ja keine Pädagog*innen, machen viel aus dem Bauch heraus. Und glücklicherweise wissen wir, wo wir uns im Diakoniewerk Hilfe holen können. Es gibt auch einen lockeren Treff ‚Frauen in Leitung‘. Dort habe ich die geballte Power um mich herum und profitiere von den jeweiligen Erfahrungen und Ratschlägen. In manchen Situationen hilft es ungemein, wenn man Profis hat, die von außen drauf gucken und Tipps geben.
Interview: Kathrin Michels (Diakoniewerk Essen); Fotos: Maya Claussen
Soziale Hilfen
Restaurant Church
Haus der Evangelischen Kirche, III. Hagen 39, 45127 Essen
Telefon: 0201 2664-987300
Geöffnet: dienstags bis samstags,
9 bis 16 Uhr
Lern- und Lehrbetrieb
Das Church ist ein Arbeitsprojekt des Diakoniewerks Essen, ein Baustein in der Ausbildung von Jugendlichen und der Qualifizierung langzeitarbeitsloser Menschen, die die Möglichkeit nutzen, Erfahrungen im Gastronomiebereich zu sammeln. Derzeit hat das Church sechs festangestellte Mitarbeiter* innen und etwa 20 Teilnehmer*innen aus unterschiedlichen Arbeitsmaßnahmen – darunter Köche, Servicekräfte, Verwaltungsangestellte, Azubis, Jugendliche in Einstiegsqualifizierung und Schülerpraktikant*innen.