14. September 2023

Sparpläne der Bundesregierung

Helfen, eine Zukunft aufzubauen

Die Jugendmigrationsdienste helfen jungen Menschen dabei, eine Ausbildung oder einen Beruf zu finden und sich in Deutschland zu orientieren. Damit ermöglichen sie oft auch deren Familien ein besseres Leben. Doch im kommenden Jahr will die Bundesregierung 40 Millionen Euro weniger dafür ausgeben – eine Kürzung um 40 Prozent.

  • Junger Mann mit Schulmaterialien unter dem Arm
  • Frau berät eine andere Frau
  • Unterricht im Integrationskurs

Vor ein paar Monaten noch war Marthas* (Name geändert) Leben das reinste Chaos. An allen Ecken gab es Probleme: mit der Bank, mit dem Amt, mit der Krankenkasse. 2015 ist sie aus dem Kongo geflüchtet – doch zur Ruhe kommt sie erst jetzt. Zwei Probleme waren besonders groß. Weil Geflüchtete nach einem festgelegten Schlüssel in Deutschland verteilt werden, lebte sie in Magdeburg, ihre Schwester in Essen. Doch einfach umziehen konnte sie nicht: "Wohnsitzauflage", erklärt sie. Das zweite Problem: Weil sie im Kongo politisch verfolgt wurde, hat sie bei der Ankunft in Deutschland aus Angst einen falschen Namen angegeben und musste danach mühsam mit den verschiedenen Behörden ihren Namen klären. Allein, sagt sie, hätte sie das nicht geschafft. "Ich konnte aber immer Frau Bähr anrufen, wenn es Probleme gab." 

Bernadette Bähr arbeitet beim Jugendmigrationsdienst (JMD) in Essen. Dort finden Geflüchtete zwischen zwölf und 27 Jahren Unterstützung und Orientierung in nahezu allen Lebenslagen. Denn obwohl es beim JMD vor allem um den Übergang von der Schule in eine Ausbildung oder einen Beruf geht, hört die Beratung bei diesem Thema lange nicht auf. 665 junge Menschen hat der JMD in Essen 2022 begleitet und ihnen auch Gruppenangebote gemacht. Doch ob die Arbeit in diesem Umfang weitergehen kann, ist nicht sicher. Denn die Bundesregierung will ab Januar 2024 das Geld für die Jugendmigrationsdienste deutlich kürzen.

Beraterin Bernadette Bähr im Gespräch mit Martha.

Beraterin Bernadette Bähr (rechts) hilft Martha, ihr Leben in Essen aufzubauen.

Kürzung um 40 Prozent

Die Finanzierung läuft über den Kinder- und Jugendplan des Bundes. In diesem Jahr wird die Arbeit deutschlandweit mit 100 Millionen Euro gefördert, für das kommende Jahr sieht die Bundesregierung nur noch 58,8 Millionen Euro vor. Das entspräche einer Kürzung um 40 Prozent. "Von den 23.000 jungen Menschen, die die Jugendmigrationsdienste in NRW aktuell erreichen, könnten rund 3.500 dann nicht mehr begleitet werden", sagt Susanna Thiel, Referentin des Diakonischen Werks Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL) im Geschäftsfeld Flucht, Migration und Integration.

Und nicht nur im Kernprogramm der Jugendmigrationsdienste soll gekürzt werden. Das Programm "Respekt Coaches", mit dem an Schulen Präventionsangebote zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Radikalisierung gemacht werden, und die Bildungsberatung des Garantiefonds Hochschule für zugewanderte Menschen sollen komplett gestrichen werden. 30 Millionen Euro will die Bundesregierung so einsparen.

Bilge Colak (rechts) und Thomas Hartung (links)

Thomas Hartung (links) mit Bilge Colak, der ebenfalls beim Jugendmigrationsdienst Essen arbeitet.

Träger muss Stellen reduzieren

Träger des JMD in Essen ist die Evangelische Kirchengemeinde Essen-Borbeck-Vogelheim. Fällt das Geld weg, kann die Gemeinde ihr Angebot nicht mehr in dieser Form aufrechterhalten, sagt Trägervertreter Thomas Hartung und fragt: "Woher soll das Geld kommen?" Auf lange Sicht müsse die Gemeinde überlegen, wie viele Stellen sie sich noch leisten könne: statt vier wohl nur noch zwei. Das hätte sofortige Konsequenzen: In der Essener Gemeinde würden pro Jahr 300 junge Menschen weniger begleitet werden.

"Wir leisten mit wenig Aufwand und Geld sehr effektive Arbeit", sagt Thomas Hartung. Er kennt viele Beispiele von jungen Geflüchteten aus Syrien oder Afghanistan, die Ausbildungen abgeschlossen oder studiert haben und jetzt als Pflegekräfte, Ärzte oder Architekten arbeiten. Aber auch eines von einer jungen Frau aus der Ukraine, die über das Jobcenter versucht hat, Arbeit zu finden: Der ausgebildeten Bauingenieurin und Webdesignerin wurden Jobs als Kellnerin oder Reinigungskraft angeboten.

Bernadette Bähr sitzt an ihrem Arbeitsplatz.

Begleitet Martha als Fürsprecherin: Bernadette Bähr spricht einmal pro Woche mit der jungen Mutter und hilft ihr, Steine aus dem Weg zu räumen.

Helfen, eine Zukunft aufzubauen

Der Jugendmigrationsdienst helfe jungen Menschen, ihren Weg zu finden, so Hartung. Dabei unterstützen die Mitarbeitenden die Jugendlichen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, damit sie sich darauf konzentrieren können, anzukommen und ihre Zukunft aufzubauen. So wie bei Martha. Sie hatte in Essen schon einen Ausbildungsplatz als Kinderpflegerin in Aussicht und wollte auch wieder näher zu ihrer Schwester ziehen, die bei der Betreuung ihrer zwölfjährigen Tochter helfen sollte. Doch damit sie überhaupt umziehen und die Ausbildung beginnen konnte, brauchte sie eine Fürsprecherin wie Bernadette Bähr. 

"Martha wurden von den Behörden viele Steine in den Weg gelegt", sagt die Beraterin. "Immer wieder zweifelten die Behörden auch ihre Glaubwürdigkeit an." Es hat viel Zeit und viele Anrufe gekostet, den Umzug zu ermöglichen, Anträge zu stellen und dafür zu sorgen, dass die junge Mutter und ihre Tochter krankenversichert werden. Seit Februar ist Martha jede Woche bei Bernadette Bähr. Mittlerweile konnte sie ihre Arbeit im Kindergarten anfangen.

Beratung unterstützt bei Integration

Was mit Menschen passiert, die nicht auf die Hilfe von solchen Beratungsstellen hoffen können? Die ziehen sich in ihre Communitys zurück, sagt Thomas Hartung, schaffen womöglich eigene Strukturen und helfen sich gegenseitig. Das kann sehr effizient und positiv verlaufen, aber zum Teil entstehen so auch Parallelgesellschaften – ohne Bezug und Integration in die Gesamtgesellschaft.

Diakonie RWL-Expertin Susanna Thiel: "Das sind Fehler, die wir vor 40 Jahren gemacht haben – es kann nicht sein, dass wir sie jetzt wieder machen." Der Übergang von Schule in den Beruf sei zentral dafür, dass junge Leute in ein eigenständiges Leben starten können, in dem sie nicht dauerhaft auf Unterstützung angewiesen sind. Die Diakonie RWL fordert deshalb die Abgeordneten im Deutschen Bundestag auf, den von der Ampel-Regierung geplanten Kürzungen keinesfalls zuzustimmen und im parlamentarischen Beratungsverfahren deutlich nachzubessern. "Die Jugendmigrationsdienste brauchen mindestens das Geld, das bislang zur Verfügung stand", sagt Susanna Thiel. "Aber eigentlich brauchen wir für diese wichtige Arbeit noch viel mehr."

Susanna Thiel

Die Jugendmigrationsdienste leisten wertvolle Arbeit, von der auch die Wirtschaft und der Staat profitieren, sagt Diakonie RWL-Referentin Susanna Thiel.

Förderung an Inflation anpassen

Da derzeit mehr geflüchtete Menschen nach Deutschland kommen als in den vergangenen Jahren, wären für die Jugendmigrationsdienste 78,8 Millionen Euro pro Jahr nötig. Das haben Berechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit und der anderen Träger-Verbände ergeben. Auch in Zukunft müsste die Förderung an Entwicklungen wie Tariferhöhungen und Inflation angepasst werden, so die Diakonie RWL-Expertin. 

Die Bundesregierung fördert derzeit gezielt den sicheren und dauerhaften Aufenthalt von Arbeitskräften mit Gesetzen wie dem Chancenaufenthaltsrecht oder dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Der Beratungsbedarf werde deshalb weiter steigen – auch angesichts von Behörden, die über Überlastung klagten, so Susanna Thiel. Die Jugendmigrationsdienste fangen das auf: "Wir sind Mittler – wir bieten Orientierung und unterstützen bei der Kommunikation mit Behörden", sagt Susanna Thiel. Von der Arbeit der Jugendmigrationsdienste profitierten schlussendlich nicht nur die jungen Menschen selbst, sondern oftmals auch deren Familien – und auf lange Sicht auch die Wirtschaft und der Staat. Nämlich dann, wenn die jungen Leute gute Berufe ergreifen und sich so mit ihren Talenten gewinnbringend in die Gesellschaft einbringen können.

Text: Caro Scholz, Fotos: Caro Scholz, Canva, Diakonie RWL/Christoph Bild