4. Januar 2022

Bahnhofmission und Quartier

Mitgestalterin des Stadtviertels

Seit über 100 Jahren unterstützen die Bahnhofmissionen Reisende und Menschen in Not. Sie sind für alle da, aber nicht alle kennen sie. Dabei könnten sie im Bahnhofsquartier eine wichtige Rolle spielen, wenn es um Mitbestimmung und Mitgestaltung geht. Mit welchen Ideen dazu die Diakonie RWL ins neue Jahr startet, erzählen die Referentinnen Karen Sommer-Loeffen und Elisabeth Selter-Chow.

  • Eine Mitarbeiterin der Bahnhofsmission sitzt mit zwei Gästen am Tisch.
  • Zwei Mitarbeitende der Bahnhofsmission mit einem Mann im Rollstuhl.
  • Mitarbeiterin der Bahnhofsmission Köln mit Kindern am Hauptbahnhof
  • Diakonie RWL-Referentin Karen Sommer-Loeffen unter dem Schild der Bahnhofsmission

Frau Sommer-Loeffen, Sie begleiten und beraten bei der Diakonie RWL die 26 Bahnhofsmissionen im Verbandsgebiet. Wie vernetzt sind sie ins Quartier, in dem sie ihre Hilfen anbieten?

Die Bahnhofsmissionen sind sehr gut vernetzt mit den sozialen Einrichtungen der jeweiligen Städte, in denen sie arbeiten. Mit ihren blauen Westen und vereinzelten Aktionen sind im Bahnhof zwar gut erkennbar, aber vielen Menschen trotzdem nicht bekannt. Es gibt wenig Berührungspunkte mit den Geschäften und deren Inhabern und erst recht nicht mit dem Stadtteil, in dem die Bahnhöfe liegen und die oft zu den sozial benachteiligten Quartieren gehören. 

Gemeinsam mit Frau Selter-Chow bin ich mit der Idee, das Bahnhofsquartier näher zu betrachten, an die Evangelische Hochschule RWL in Bochum herangetreten. Die Projektidee wurde von Studierenden der Heilpädagogik begeistert aufgenommen. Mit unterschiedlichen Befragungs- und Analysetools haben sie den Sozialraum Bahnhof dann in Bochum in den Blick genommen. 

Portraitfoto Elisabeth Selter-Chow

Elisabeth Selter-Chow ist bei der Diakonie RWL für das Thema Quartiersentwicklung zuständig.

Frau Selter-Chow, als Expertin für Quartiersentwicklung richten Sie den Blick stärker auf den Stadtteil. Was kann die Bahnhofsmission für das Quartier tun?

Sie kann wichtige Impulse dafür setzen, dass sich das Bahnhofsquartier in Bezug auf Sauberkeit, als sicherer Ort, aber auch als Begegnungsort verändern kann. Die Bahnhofsmissionen kennen die Bedürfnisse der Menschen, die in unserer Gesellschaft am Rand stehen und wenig Einfluss haben. Gemeinsam mit ihnen können sie Ideen entwickeln, wie das Quartier lebenswerter gestaltet werden kann und dafür noch andere Akteure, etwa Geschäftsleute, Anwohner, Quartiersmanager oder Stadtplaner, mit ins Boot holen. 

Wohnungslose Frauen, die oft ganz besonderen Bedrohungen ausgesetzt sind, berichten in den Bahnhofsmissionen von Gegenden im Stadtteil, die dunkel, verwahrlost und angstmachend sind. Das ist zum Beispiel ein Thema, das alle Frauen angeht und das deshalb auch gemeinsam angepackt werden könnte.

Portrait Karen Sommer-Loeffen

Karen Sommer-Loeffen betreut bei der Diakonie RWL die Bahnhofsmissionen und ist für das Thema "Ehrenamt" zuständig.

Was ist den Studierenden in ihrem Projekt aufgefallen?

Karen Sommer-Loeffen: Sie haben vor allem fünf Themen identifiziert, die die Bahnhofsmissionen stärker in den Blick nehmen sollten. Dazu gehören zunächst die Frauen, die etwas aus dem Blick geraten sind, obwohl sie vor über 100 Jahren der Anlass für die Gründung der ersten Bahnhofsmissionen waren. Denn heute suchen weniger Frauen als Männer die Bahnhofsmissionen auf. Wir fragen uns, wie sie auch von Frauen als Schutzraum und Ort der Stärkung aufgenommen werden können. 

Ein weiteres Thema ist die Öffentlichkeitsarbeit. Die Bahnhofsmissionen sind in der Bevölkerung und vor allem unter jungen Menschen weniger bekannt als wir glauben. Das haben die Umfragen der Studierenden ergeben. Sie vermissen die Öffentlichkeitsarbeit für die Bahnhofsmissionen vor allem in den sozialen Netzwerken.

Elisabeth Selter-Chow: Auch auf die Reisehilfen müsste nach Ansicht der Studierenden ein stärkerer Fokus gelegt werden. Zu wenig Menschen wissen, dass die Bahnhofsmissionen beim Umsteigen helfen, etwa bei älteren Reisenden oder Menschen mit einer Behinderung und dass sie Menschen, die sich unsicher fühlen, in Nahverkehrszügen begleiten. Auf dieses Angebot sollte es gut gestaltete Hinweise beim Fahrkartenkauf geben, und dafür sollten die Bahnhofsmissionen gezielte Kooperationen mit Kitas, Schulen und Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe eingehen. 

Das Modell eines "Hygienecontainers" im Pappkarton

So könnte ein "Hygienecontainer" aussehen.  Die Studierenden haben ein Modell  im Pappkarton gebastelt.

Wichtig war den Studierenden auch, dass sich die Bahnhofsmissionen stärker mit dem Thema Hygiene beschäftigen. Sie schlagen "Hygienecontainer" vor, in denen all jene, die wenig Geld haben, zur Toilette gehen und sich kostenlos waschen können, aber auch Wechselkleidung und Hygieneartikel erhalten.

Karen Sommer-Loeffen: Das war ein großer Wunsch vieler Gäste der Bahnhofsmission Bochum, die die Studierenden befragt haben. Und damit sind wir beim fünften Thema: der Partizipation. Die Menschen, die die Bahnhofsmission regelmäßig nutzen, weil sie sich hier aufwärmen und Hilfe bekommen, sollten sie als "Vernetzungsort" erleben, an dem sie sich austauschen, aber auch Ideen für das Bahnhofsquartier entwickeln können.

Wie realistisch ist es denn, dass die Ideen der Studierenden in die Tat umgesetzt werden? 

Elisabeth Selter-Chow: Das wird sicher einige Zeit dauern, aber ich finde die Vorschläge, die die Studierenden machen, einleuchtend. Ihre Idee, dass die Bahnhofsmissionen sichtbarer werden, indem sie mit Lastenfahrrädern am Bahnhof unterwegs sind, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen oder am Bahnhof gemeinsame Projekte zu machen, ist sehr konkret. Auch die Möglichkeit, neue Kooperationspartner zu finden, die aus dem Quartier kommen – etwa den Friseur, der auch mal kostenlos Haare schneidet, oder das Café, das den Kaffee spendet -, lässt neue Chancen erwachsen.

Studierende mit einem Lastenfahrrad, auf dem Werbematerial für die Bahnhofsmission zu sehen ist.

In einem gemeinsamen Workshop haben Studierende "ihr Lastenfahrrad" für die Bahnhofsmission vorgestellt.

Karen Sommer-Loeffen: Im Gegenzug könnte die Bahnhofsmission für die Angestellten der Bahnhofsläden eine gemeinsame Mittagspause initiieren und zu Aktionen oder Veranstaltungen einladen, die nicht nur für ihre Gäste gedacht sind. Für das Aufstellen von "Hygienecontainern" und Hinweise auf die Reisehilfe an Fahrkartenausgabestellen braucht es natürlich die Zustimmung der Deutschen Bahn. Doch sie ist ebenfalls daran interessiert, den Bahnhof als lebendiges Quartier zu gestalten.

Wie geht es mit all diesen Ideen aus dem Studierendenprojekt weiter?

Karen Sommer-Loeffen: Die Studierenden haben uns viele Impulse gegeben, von denen einige in diesem Jahr bei der Bahnhofsmission Bochum umgesetzt werden sollen. Wir wollen einen Perspektivwechsel hinbekommen, der auch für andere Bahnhofsmissionen Vorbild sein kann. Ich hoffe, dass in 2022 viele kleine "Leuchtturmprojekte" entstehen, die zur Weiterentwicklung des Quartiersansatzes beitragen. So haben die Quartiersspaziergänge in der Bahnhofsmission Düsseldorf schon viel bewegt. Am Ansatz der Quartiersarbeit gibt es auch auf Bundesebene bei den Bahnhofsmissionen großes Interesse.

Das Gespräch führte Sabine Damaschke.

Ihr/e Ansprechpartner/in
Karen Sommer-Loeffen
Geschäftsfeld Krankenhaus und Gesundheit
Weitere Informationen

Die erste Bahnhofsmission eröffnete 1894 am Berliner Ostbahnhof. Junge Frauen, die vom Land in die Städte zogen, sollten vor Ausbeutung und erzwungener Prostitution beschützt werden. An fast allen wichtigen Knotenpunkten des Schienennetzes gründeten sich in den folgenden Jahren Bahnhofsmissionen. Bundesweit gibt es rund 100 Bahnhofsmissionen, 26 von ihnen liegen im Verbandsgebiet der Diakonie RWL.