5. Mai 2021

Protesttag der Menschen mit Behinderung

Handeln statt Blumensträuße

In Potsdam tötet eine Pflegekraft vier Menschen mit Behinderung. Wäre die Berichterstattung bei einer rassistisch motivierten Tat empörter? "Wahrscheinlich", sagt Birgit Rothenberg vom Dortmunder Verein "MOBILE – Selbstbestimmtes Leben Behinderter". Menschen mit Behinderungen werden noch immer ausgegrenzt, betont sie am heutigen Protesttag zur Gleichstellung.

  • Fotocollage - Links Grabblumen - rechts Menschen mit Behinderung bei einer Demo

Vier Menschen wurden vor einer Woche von einer Mitarbeiterin in einer diakonischen Einrichtung in Potsdam getötet. Wie haben Sie auf die Nachricht reagiert?

Ich bin noch immer bestürzt und fassungslos. Es macht mich sprachlos, dass fünf Menschen in ihrem Zuhause angegriffen und vier von ihnen getötet wurden. Meine Anteilnahme gilt allen Angehörigen, Freunden und den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern.

Wenn ich mir vorstelle, wie das für mich wäre, wenn in meinem Haus vier meiner Nachbarn getötet würden und ich überlebt hätte. Das kann ich gar nicht nachempfinden, was da an Traumatisierung, Trauer und Verunsicherung zurückbleibt.

Der rbb berichtete in einer Sondersendung von der Tat und ließ einen Polizeipsychologen zu Wort kommen, der von dem Wunsch nach "Erlösung" als möglichem Tatmotiv sprach. Wie haben sie die Berichterstattung wahrgenommen?

Der Begriff "Erlösung" ist inakzeptabel. Das ist ein durch die Nationalsozialisten geprägter Begriff. Ihn im Zusammenhang mit den Tötungen von vier Menschen zu nutzen, ist einfach nur geschmacklos. Da zeigt sich das Muster, dass Menschen mit Behinderungen als "schutzbedürftig" und "leidend" gesehen werden. Und nicht als das, was sie wirklich sind: ganz normale Bürgerinnen und Bürger.

Ich habe mich gefragt, ob bei anderen schweren Gewaltdelikten ähnlich berichtet wird. Ich nehme wahr, dass Menschen mit Behinderung als große, nicht differenzierbare Gruppe gezeigt werden. Es geht nicht um die Jugendlichen, die Schüler, die Senioren oder die Berufstätigen. Das entscheidende Merkmal ist oft die Behinderung. Das wird den Menschen in ihrer Vielfalt einfach nicht gerecht. Sie werden so zu bemitleidenswerten "Sonderwesen".

Bislang schweigt die mutmaßliche Täterin zu den Hintergründen. Dennoch: Wie kann die Aufarbeitung einer solch schrecklichen Tat aussehen?

Polizei, Staatsanwaltschaft und die diakonischen Verantwortlichen müssen alles dran setzen, um schonungslos offenzulegen, wie es zu den Tötungen kommen konnte. Es hilft nicht, dass wir in Betroffenheit Blumen vor der Einrichtung niederlegen. Wir müssen dafür sorgen, dass sich das nicht wiederholt. Menschen, die dort leben, brauchen jetzt gezielte Unterstützung.

Zur Aufarbeitung gehört auch, sich die Gewaltschutzkonzepte kritisch und schonungslos gemeinsam mit Behindertenvertretungen anzuschauen. Was sagen externe Expertinnen und Experten dazu? Was die Bewohner und Bewohnerinnen? Wo braucht es mehr personelle Ressourcen? Was wollen die Bewohner und Bewohnerinnen selbst?

Dr. Birgit Rothenberg

Barrieren abbauen: Dafür setzt sich Dr. Birgit Rothenberg vom Dortmunder Verein "MOBILE – Selbstbestimmtes Leben Behinderter" ein. 

Der heutige Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ist durch die Tat überschattet. Das diesjährige Motto ist "Deine Stimme für Inklusion – mach mit!". Bedroht die Corona-Pandemie die Teilhabe?

Bei der gleichberechtigten Teilhabe hat es einen Stillstand und in einigen Bereichen sogar eine Rolle rückwärts gegeben. Dabei denke ich vor allem an die Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Hier hätte die Politik schneller reagieren müssen. Mit regelmäßigen Corona-Tests für die Mitarbeitenden und zügigen Impfungen für Mitarbeitende und Bewohnerinnen und Bewohnern hätte ihnen nicht so viel abverlangt werden müssen.

Ich mache mir auch große Sorgen darum, was nach der Corona-Krise kommt. Die finanziellen Belastungen durch die Pandemie sind enorm. Ich habe Angst, dass wir uns wieder in einer ewigen Spirale um Finanzierungsfragen von notwendigen Teilhabeleistungen wiederfinden.

Teilhabe ist ein sehr umfangreiches Thema. Wo würden Sie zuerst ansetzen?

Beim aktuell diskutierten Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Sichtbare Barrieren abzubauen, ist absolut machbar. Es muss für alle Menschen in Deutschland möglich sein, ins Café oder in die Eisdiele zu gehen. Bahn zu fahren oder ein Taxi zu nehmen. Gerade bei diesen gebauten Barrieren wird so sichtbar, dass es keine gleichberechtigte Teilhabe in Deutschland gibt. Das, was in der Pandemie für alle gilt, bleibt für viele Menschen mit Behinderungen auch nach dem Aufheben der Einschränkungen bestehen.

Wenn wir diese Barrieren durch das Gesetz nach und nach abbauen, werden wir uns auch anders begegnen. Der Mensch ohne Behinderung muss dann nicht mehr dem anderen den Bordstein oder die Stufen raufhelfen. Die Beziehung ist dadurch eben nicht mehr durch barrierenbedingte Hilfen geprägt und wir begegnen uns dadurch hoffentlich stärker auf Augenhöhe.

Das Gespräch führte Ann-Kristin Herbst.
Fotos: Pixabay, Shutterstock und privat.

Weitere Informationen

Protesttag zur Gleichstellung
von Menschen mit Behinderung

Der Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai entstand im Jahr 1992 auf Initiative der Nichtregierungsorganisation Disabled Peoples’ International. Seither finden an diesem Tag europaweit Demonstrationen und Aktionen gegen die Diskriminierung und Benachteiligung von Menschen mit Behinderung statt. In Corona-Zeiten verlagern sich diese Protestmaßnahmen vor allem in die digitale Welt. Jährlich steht der Protesttag unter einem bestimmten Motto, 2021 lautet dieses "Deine Stimme für Inklusion – mach mit!".