Ein Jahr nach der Flut
Als die Baggerschaufel sich in die Mauer gräbt und auch die letzten Reste der zerstörten Hauswand in sich zusammenfallen, muss Sabine weinen. Gemeinsam mit Kirsten Schwenke, Vorständin des Diakonischen Werks Rheinland-Westfalen-Lippe, Martin Keßler, Direktor Diakonie Katastrophenhilfe, und Psychologin Sabine Elsemann beobachtet die Winzerin aus Mayschoß die Abrissarbeiten an ihrem Elternhaus vom gegenüberliegenden Parkplatz aus. Unmittelbar daneben plätschert die Ahr vor sich hin. Vor rund einem Jahr, in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli, ist der Fluss zu einem reißenden Strom angewachsen, hat Gebäude zerstört und Menschen das Leben genommen. Auch Sabines Nachbarin ist in der Flut ertrunken. "Das alles will noch immer nicht in meinen Kopf", sagt die Winzerin, die seitdem im Nachbarort wohnt. "Ich bin einfach krank vor Trauer und Heimweh."
Kirsten Schwenke (re.) und Martin Keßler (li.) im Gespräch mit Nadine Günther-Merzenich im zerstörten Haus der Familie Jonas in Arloff in Bad Münstereifel.
Persönliche Eindrücke
Diese und andere Begegnungen mit Betroffenen der Flut sowie Helfenden vor Ort sind es, die Kirsten Schwenke während ihrer dreitägigen Reise durch mehrere Gebiete in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen tief berühren. "Ich darf viele bewegende Berichte hören und kann mir selbst ein Bild von der Stimmungslage der Menschen ein Jahr nach der Katastrophe machen", sagt die Diakonie RWL-Vorständin. "Den Menschen persönlich zu begegnen, in Ruhe mit ihnen ins Gespräch zu kommen und sich die teils enormen Zerstörungen aus der Nähe anzuschauen, das verändert den Blick auf unsere Arbeit noch einmal sehr und zeigt, wie wichtig es ist, dass wir als Diakonie bleiben und die Betroffenen so lange umfassend unterstützen, wie es nötig ist."
Gespräche über die künftige Zusammenarbeit: Volker König (li.), Stabsstelle Hochwasserseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland, Pfarrer Stefan Bergner und Heinz-Wilhelm Schaumann (re.), Leiter der Johanniter in Dernau.
Gute Zusammenarbeit
Zum Auftakt der Besuchsreise geht es ins Ahrtal: Sinzig, Bad Neuenahr-Ahrweiler, Dernau, Mayschoß, Altenburg und Kreuzberg sind die Stationen. Das mobile Seelsorge-Team, koordiniert von der Evangelischen Kirche im Rheinland, berichtet von Menschen, die alles verloren haben und nun ganz langsam wieder zurück ins Leben finden. Von Einsatzkräften und Bauarbeitern, die erst jetzt bereit sind, sich mit ihren Erlebnissen aus der Flutnacht auseinanderzusetzen. Und von Betroffenen, die auch zwölf Monate später mit ihrem Alltag komplett überfordert sind und panische Angst vor dem bevorstehenden Jahrestag haben. "Aber wir sind für die Menschen immer erreichbar, das gibt ihnen Sicherheit", sagt Pfarrer Stefan Bergner. Er betont, wie wichtig gerade im weitläufigen Ahrtal eine gute Zusammenarbeit mit anderen Verbänden sei.
In Dernau etwa, wo elf Menschen in der Flut gestorben sind, ergänzt das Seelsorge-Team künftig die Arbeit der Johanniter: "Diese seelsorglichen Angebote sind für die Menschen im Ort enorm wichtig", betont Heinz-Wilhelm Schaumann, Leiter der Johanniter-Gruppe. Denn viele Dernauer könnten bis heute die verzweifelten Hilferufe der Ertrinkenden und das Knacken brechender Bäume nicht vergessen. Schaumann: "Deshalb freue ich mich sehr auf die Zusammenarbeit mit dem Seelsorge-Team der Diakonie."
Cornelia Weigand, Landrätin im Kreis Ahrweiler, freut sich über den Schirm, den Kirsten Schwenke ihr als symbolisches Geschenk überreicht hat.
"Alleine schaffen wir das nicht"
Auch die Landrätin für den Kreis Ahrweiler, Cornelia Weigand, ist dankbar, dass die Diakonie hilft: "Sie leisten eine tolle Arbeit. Sie belehren nicht, sondern ermöglichen es den Betroffenen, ihr Selbstwertgefühl zu behalten", betont die Politikerin im Gespräch mit Kirsten Schwenke und Martin Keßler. Und weiter: "Die Menschen hier werden noch Jahre an den Folgen der Flut zu knabbern haben. Deshalb hoffen wir, dass die Diakonie Katastrophenhilfe RWL uns so lange wie möglich begleiten wird. Alleine schaffen wir das nicht."
Wie sehr die Unterstützung der Diakonie Katastrophenhilfe RWL benötigt wird, zeigte auch der Besuch in Altenburg. Der Ort leidet besonders unter den Folgen der Flut, rund 95 Prozent der Häuser sind zerstört. "Unser Dorf ist tot, der Alltag zermürbend, der Druck groß. Wir durchleben ein Wellental der Gefühle", beschreibt ein Bewohner seine Situation. "Man resigniert wegen Kleinigkeiten. Deshalb ist es so wichtig, dass die Helfer weiter da sind." Frank Linnarz, stellvertretender Kreisfeuerwehrinspektor im Kreis Ahrweiler, berichtet, dass viele Einsatzkräfte erst jetzt, "wo die Horden an freiwilligen Helfern weg sind", realisierten, wie schlecht es auch ihnen gehe. "Mit der Ruhe kommt die Erkenntnis."
Im Kloster in Swisttal möchte das Fluthilfeteam einen Treffpunkt für alle Bewohner etablieren.
Krise als Chance
In Swisttal im Rhein-Sieg-Kreis sind die Bewohner schon etwas weiter. "Es geht ganz gut voran, die Bereiche Seelsorge und Beratung greifen ineinander, die Anträge auf finanzielle Hilfen laufen gut, der Wiederaufbau ist im Gange", sagt Elke Feuser-Kohler vom mobilen Fluthilfeteam. Längst etabliert hat sich etwa ein wöchentlicher Kochtreff in den evangelischen Gemeinderäumen, zu dem bis zu 30 Personen kommen, die sich vor der Flut noch gar nicht kannten. Es gibt außerdem Angebote für Kinder zum Thema Wasser und Informationsveranstaltungen für Eltern zum Thema Traumata. Im Ort wird schon überlegt, mit welchen Projekten die Gemeinschaft in der Region künftig gestärkt und damit besser auf Katastrophen vorbereitet werden kann. Elke Feuser-Kohler sagt: "Wir möchten die Krise als Chance nutzen."
Die evangelische Kirche in Gemünd ist seit der Flut leer. Bänke und Altar sind ausgelagert.
Quartierskirche
Solche Überlegungen gibt es auch im Schleidener Stadtteil Gemünd in der Eifel. Dort stellt Pfarrer Hans-Peter Bruckhof den Besuchern die Pläne für eine Quartierskirche vor. Das Gebäude ist aktuell fast leer, die Kirchenbänke und den Altar konnten Helfer noch in der Unglücksnacht bergen. "Und nach einigen Tagen machte sich im Schlamm auf dem Boden der Kirche tatsächlich zartes Grün breit – dort ist Gras gewachsen", erzählt Bruckhof. Auch der Pfarrer selbst ist von der Flut betroffen: Das Pfarrhaus gegenüber wurde in der Nacht zerstört, Bruckhof lebt seitdem mit seiner Frau in Aachen. Den Jahrestag möchte er gemeinsam mit seiner Frau in aller Stille verbringen. "Mein Team hält mich aus allen offiziellen Veranstaltungen raus, dafür bin ich sehr dankbar", so Bruckhof.
Spontane Plauderei im Hof der Seniorenwohnanlage in Kall: Nadine Günther-Merzenich, Leiterin Fluthilfeteam Euskirchen, Bewohnerin Helga Wallraf und Malte Duisberg, Geschäftsführer der Stiftung EvA.
Große Dankbarkeit
Nadine Günther-Merzenich leitet das mobile Fluthilfeteam Euskirchen, das die nördliche Eifelregion betreut, und freut sich über den Besuch der Vertreter der Diakonie Katastrophenhilfe RWL. "Das ist eine ganz besondere Form der Wertschätzung und ein Zeichen dafür, dass unser Einsatz gesehen wird", sagt sie. Gemeinsam mit Malte Duisberg, Geschäftsführer der Stiftung EvA (Evangelisches Alten- und Pflegeheim), führt sie die Gäste aus Düsseldorf und Berlin in ein Seniorenheim in Kall, das in Teilen noch einer Baustelle gleicht. "Aber im Oktober, spätestens November, sollen alle Wohnungen wieder bezogen sein", kündigt Duisberg an. Die 83-jährige Helga Wallraf gehört zu denen, die bereits seit Dezember wieder in der Einrichtung leben können. "Ich bin allen Helfern und Spendern dankbar, dass das so schnell geklappt hat", sagt sie.
Thomas und Heidi Jonas mit ihrer Tochter Tamara: Die Familie aus Arloff in Bad Münstereifel freut sich über die neue Küche.
"Gemeinsam geht alles"
Die umfassende Unterstützung der Diakonie Katastrophenhilfe RWL hat auch Familie Jonas aus Arloff in Bad Münstereifel in Anspruch genommen. Noch sind zwar einige Zimmer im Erdgeschoss des Hauses Rohbau. "Aber seit ein paar Tagen ist unsere neue Küche fertig", erzählt Heidi Jonas den Besuchern. "Und das Wichtigste: Ich habe meine Garten-Oase endlich wieder." Dort hat das Wasser Mauern, Zäune und zahlreiche Pflanzen zerstört. Mittlerweile blüht es dort wieder, der Kirschbaum trägt Früchte, und in der selbst gebauten Kompostwanne graben sich hunderte Würmer durch die Pflanzenreste. "Ich bin davon überzeugt, dass wir es schaffen", sagt sie. "Gemeinsam geht alles."
Davon ist auch Kirsten Schwenke nach der Reise überzeugt. "Obwohl wir gesehen haben, dass die Betroffenen noch viel Geduld aufbringen müssen und der Wiederaufbau Jahre dauern wird, haben wir auch viel Positives erlebt und beeindruckende Menschen kennenlernen dürfen – ein wirklich schönes Beispiel für den Zusammenhalt unserer Diakonie-Familie."
Text: Verena Bretz, Fotos: Thomas Lohnes/DKH, V. Bretz