Flutkatastrophe im Ahrtal
Karl Linden steht neben dem Sandhügel an der Zufahrt zu seinem Mietshaus und winkt wild mit beiden Armen, als Tamara Orschler mit ihrem Geländewagen die Schotterpiste hochfährt. "Liebelein – wie schön, dass du kommst", ruft der 65-Jährige. Auch seine beiden Rauhaardackel Frido und Hexe bellen aufgeregt, als Hündin Luna aus dem Auto der Fluthelferin springt. Auf die Frage, wie es ihm geht, antwortet der Mann: "Der Staub ist immer noch schlimm. Aber jetzt, wo die Natur grüner wird, ist die Stimmung schon besser." Sein Nachbar hat erst vor wenigen Tagen neue Obstbäume auf der Wiese am Straßenrand gepflanzt: Birne, Kirsche und Apfel. Andere haben Blumenkübel vor ihren zerstörten Häusern aufgestellt. "Die paar Menschen hier in Kirchsahr packen einfach an und machen was", sagt Karl Linden.
Karl Linden zeigt, wie hoch das Wasser an seinem Mietshaus in Kirchsahr im Sahrbachtal stand: "Bis zum Hals", sagt der 65-Jährige.
Wasser bis zum Hals
Er erinnert sich gut an die Flut. "Das Wasser aus dem Sahrbach stand mir sprichwörtlich bis zum Hals", erzählt er und zeigt auf die entsprechenden Spuren an der Hauswand. Und weil sämtliche Zufahrten zerstört waren, dauerte es vier Tage lang, bis endlich Hilfe ins Dorf kam. "Wir hatten hier in Kirchsahr weder Strom, noch Wasser, Fernsehen, Telefon oder Radio", sagt Linden. "Also haben wir gemeinsam den Schlamm aus den Häusern geholt, alle Lebensmittel aufgetaut und vier Tage lang nur gegrillt. Zum Frühstück schon Steak – das war was." An Tag fünf seien dann erstmals Panzer an seinem Haus vorbeigerollt. Und Hubschrauber brachten Lebensmittel. "Natürlich haben wir uns Sorgen gemacht und gedacht: Wieso kommt denn keiner zu uns?", erinnert sich Linden. "Aber wir haben eine gute Dorfgemeinschaft und glücklicherweise ist hier im Sahrbachtal auch niemand zu Tode gekommen."
Das Wasser aus dem Sahrbach hat die Straße fast komplett weggespült.
Zerstörte Straßen
Tamara Orschler gehört von Beginn an zum mobilen Seelsorgeteam im Ahrtal von Diakonie und evangelischer Kirche im Rheinland. Ihr Containerbüro steht in Kreuzberg. Zu den Menschen ins Sahrbachtal konnte die Sozialpädagogin erst sechs Wochen nach der Flut fahren. "Viele haben geweint, als ich sie zum ersten Mal getroffen habe." Die Straßen waren teilweise weggebrochen, die Häuser zerstört, vor Karl Lindens Haus klaffte ein riesiges Loch. Warmes Wasser gab es erst im Dezember wieder. Die Zufahrtstraße nach Kirchsahr ist mittlerweile neu. Dennoch ist die Fahrt dorthin mühsam. Karl Linden selbst verlässt sein Dorf nur einmal pro Woche, um Einkäufe zu erledigen.
"Im Sahrbachtal leben kaum Kinder, aber viele alte Menschen, oft alleinstehend, die wenigsten von ihnen waren versichert", sagt Tamara Orschler. "Andere Gegenden standen nach der Flut viel stärker im öffentlichen Interesse." Die Sozialpädagogin hat sich deshalb anfangs um alles gekümmert, was nötig war: Reden und Zuhören, Lieferdienste und Papierkram erledigen. "Viele Betroffene muss ich immer noch regelrecht antreiben und drängen, dass sie die Hilfen beantragen, die ihnen zustehen." Das koste sie viel Kraft. "Aber die Menschen geben mir auch viel zurück." Die 33-Jährige erzählt: "Einer älteren Dame im Dorf bringe ich regelmäßig Orangensaft vorbei – den mag sie so gerne und freut sich jedes Mal." Und als Tamara Orschler Heiligabend Essen im Sahrbachtal auslieferte, war die Dankbarkeit bei allen spürbar.
Karl Linden und Tamara Orschler stehen vor einem Sandberg neben der Zufahrt zum Haus des 65-Jährigen.
Arbeiten gehen voran
"Tamara ist wirklich ein Herz", schwärmt Karl Linden, dessen Tochter im benachbarten Burgsahr wohnt und während der Flut hochschwanger von einem Dach gerettet werden musste. "Wenn ich längere Zeit nichts von Tamara höre, werde ich nervös." An diesem Vormittag zeigt er ihr stolz das neue Bad samt Regendusche, das er selbst gebaut hat. "Gestern konnte ich dort zum ersten Mal duschen – ein Traum!" Der Rest des Mietshauses, in dem der vierfache Großvater und Vater zweier Kinder alleine mit seinen beiden Hunden wohnt, ist größtenteils noch Baustelle. "Aber es geht voran", sagt Linden. "Mittlerweile habe ich wieder eine Heizung, Boden und Wandputz sind neu, und die Küche auch." Die Spülmaschine sowie die Dunstabzugshaube habe Tamara Orschler für ihn besorgt. "Auch dafür bin ich ihr unendlich dankbar."
Tamara Orschler besucht Hilda (re.), die seit fast einem Jahr in ihrer zerstörten Wohnung lebt.
Hausbesuche
Nach ihrer Runde durchs Sahrbachtal besucht Tamara Orschler noch einige Menschen in Kreuzberg. Dort ist sie zu Fuß unterwegs. Man kennt sich, die Türen stehen offen, alle Gärten sind frisch bepflanzt, an einigen Fassaden hängen Bettlaken mit der Aufschrift "Danke an die Helfer!". "Der Schein trügt", sagt Tamara Orschler. "Drinnen sind die Häuser noch total kaputt." So wie bei Hilda. Die Frau lebt seit zehn Monaten in einem Zimmer, der Rest ihrer Wohnung ist Rohbau. "Schön ist es nicht, aber da muss ich durch", sagt sie. "Ich hoffe, dass bald die Handwerker kommen." Zu ihrem Freund nach Köln zu ziehen, kam für sie nicht in Frage. "Ich wollte in Kreuzberg bleiben, hier kenne ich jeden und habe zum Beispiel bei der Essensausgabe im Winterquartier nebenan mitgeholfen."
In Kreuzberg haben Betroffene ein Flutmuseum eingerichtet. Dort sind auch Teile des zerstörten Feuerwehrautos zu sehen.
Flutmuseum
Mittlerweile haben die Kreuzberger und die Helfenden die kleine Container- und Zeltstadt in Frühlingsquartier umbenannt. Dort gibt es neben Waschräumen und Toiletten auch ein Verpflegungszelt sowie ein Zeltmuseum, in dem Bewohner ihre Erinnerungen an die Flutkatastrophe zusammengetragen haben, darunter viele Fotos, verschlammtes Werkzeug und sogar die Motorhaube des zerstörten Feuerwehrautos. Tamara Orschler sagt mit Blick auf die Ausstellungsstücke: "Unmittelbar nach der Flut war bei allen die Hoffnung auf den Sommer groß. Dass dann wieder so etwas wie Normalität einkehrt. Doch inzwischen sind viele mit ihrer Kraft am Ende und den Menschen wird klar, dass es noch Jahre dauern wird."
Text und Fotos: Verena Bretz