Flutkatastrophe im Ahrtal
Jule massiert sich die Oberarme. "Ich mache das zum ersten Mal, das geht ganz schön in die Muskeln", sagt die 14-Jährige, lacht und legt ihre Schleifmaschine beiseite. Kurze Pause auf dem staubigen Platz am Ortsteingang von Kreuzberg. Dort steht seit einiger Zeit ein Zirkuswagen: weiß mit pinken Streifen, über der Eingangstüre ein Clownsgesicht und zwei Elefantenköpfe. Jule und Luis sind an diesem heißen Freitagnachmittag die einzigen Jugendlichen, die beim Renovieren helfen. Normalerweise sind es rund 15 Mädchen und Jungen zwischen neun und 17 Jahren, die regelmäßig zu den Treffen kommen, die Tamara Orschler vorbereitet.
Die Sozialpädagogin ist Teil des mobilen Seelsorgeteams der Diakonie Katastrophenhilfe Rheinland-Westfalen-Lippe und seit Tag zwei nach der Katastrophe am 14./15. Juli in der Region rund um die Ahr unterwegs. Die 33-Jährige kümmert sich gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen um alle Betroffenen, die Hilfe benötigen oder einfach mal reden möchten. "So etwas wie Feierabend haben wir hier nicht", sagt Orschler. "Aber unsere Arbeit ist sehr Sinn stiftend, und wir sehen direkt, was wir damit bewirken."
Ein Zirkus in Nordhessen hat den Wagen ausrangiert. Nun steht er in Kreuzberg im Ahrtal.
Neustart nach Corona
Die Arbeit mit den jungen Leuten ist der Sozialpädagogin besonders wichtig. Sie veranstaltet beispielsweise Spieleabende oder Wanderungen. Für sie bedeutet der Zirkuswagen auch einen Neustart: "Corona hat viele Aktionen unmöglich gemacht, jetzt wollen wir wieder loslegen." Immer wieder kommt dabei auch die Flut zur Sprache. "Manche konnten lange nicht über ihre Erlebnisse reden", so Orschler.
Ein weiteres Problem: Viele Eltern hätten in den vergangenen Monaten selbst genug mit den Folgen der Flut zu tun und entsprechend wenig Zeit für ihre Kinder gehabt. "Aber die alltäglichen Sorgen und Probleme der Mädchen und Jungen gehen ja trotzdem weiter", so Orschler. "Pubertät, Freundschaften, Streit, Alkohol – alles, was Heranwachsende so durchleben." Hinzu kam bei vielen Kindern aus dem Ahrtal ein Schulwechsel, weil die Flut einige Schulen zerstört hat. "Da wurden Freundschaften plötzlich zerrissen und mussten sich Kinder in bestehende Gemeinschaften neu integrieren."
Feuerwehrleute aus Offenbach haben den Zirkuswagen ausgeräumt und anschließend mit neuer Elektrik ausgestattet.
Feuerwehr hilft
Luis etwa muss nun mit dem Bus zur Containerschule im Ortsteil Gelsdorf fahren. "Vorher war ich in Altenburg und bin jeden Morgen gemeinsam mit einer Mitschülerin zu Schule gegangen", erzählt der 13-Jährige, während er mit Tamara Orschlers Hündin Luna kuschelt. "Das Mädchen ist aber nach der Flut nach Bonn gegangen – unser Quatschen auf dem Schulweg vermisse ich schon."
Luis freut sich über den Zirkuswagen. "Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Wunsch echt in Erfüllung geht. Aber Tamara hat es geschafft." Drei ausrangierte Zirkuswagen hat die Sozialpädagogin auf einer Auktionsplattform gefunden und zur Auswahl gestellt. Die Kinder haben sich gemeinsam für den weißen entschieden, den ein Zirkus in Nordhessen abgeben wollte. Eine Stiftung hat den Kauf finanziert, auch der Verein Ahrche unterstützt die Aktion. "Feuerwehrleute aus Offenbach haben den Zirkuswagen für uns ehrenamtlich ausgeräumt, mit neuer Elektrik ausgestattet und dann mit einem Feuerwehrfahrzeug zu uns ins Ahrtal gezogen", berichtet Tamara Orschler.
Jule und Luis schleifen die pinke Farbe am Zirkuswagen ab.
Kinder packen an
"Hier drinnen sieht es echt schick aus", meint Jule, als sie den Wagen zum ersten Mal betritt. Heller Boden, die Wände sind frisch gestrichen, es gibt Sitzgelegenheiten, einen Beamer und eine Leinwand. "Und die Idee, dass wir uns hier immer treffen können, finde ich cool." Im Inneren des Zirkuswagens fehlt noch ein wenig Deko. Und nachdem der Wagen seinen neuen Außenanstrich bekommen hat, soll davor noch eine fahrbare Terrasse aufgebaut werden. "Mit Liegestühlen und Hängematten", kündigt Tamara Orschler an. Eine mobile Toilettenanlage wurde bereits aufgestellt, auch eine Feuerstelle soll es geben.
"Es ist wichtig, dass die Kinder sich an der Arbeit beteiligen und nicht alles vorgesetzt bekommen", sagt die Sozialpädagogin. Während der Arbeit entwickeln sich auch immer wieder Gespräche. Zuletzt oft Thema: der Jahrestag der Flut. Einigen Jugendlichen graut es schon jetzt davor. "Die Anspannung wächst spürbar", sagt Orschler, die die Mädchen und Jungen seit fast einem Jahr begleitet, beobachtet und ihnen in kritischen Situationen immer wieder zeigt: "Ich bin für euch da!"
Tamara Orschler (re.) und die 14-jährige Jule unterhalten sich in der neuen Sitzecke im Zirkuswagen.
Enger Zusammenhalt
Während Luis lebhaft und stolz davon erzählt, wie er nach der Flut Schlamm aus den Häusern in Kreuzberg geschleppt habe und die Dorfgemeinschaft enger zusammengerückt sei, redet Jule ungern über die Erlebnisse aus der Flutnacht. "Höchstens manchmal mit Tamara", sagt die 14-Jährige. Den Mädchen und Jungen sind die Treffen in der Gruppe wichtig. "Ich mag Tamara, weil sie schon so viel für uns getan hat", sagt Luis. "Und ich möchte auf jeden Fall mit ihr in Kontakt bleiben, auch wenn sie das Ahrtal irgendwann wieder verlässt."
Durch Tamara hat der Teenager auch das Angeln für sich entdeckt. Nach der Schleifaktion am Zirkuswagen wollen die beiden noch gemeinsam lernen, denn in wenigen Wochen steht die Angelscheinprüfung an. Während das Angeln für Luis hauptsächlich Spaß bedeutet – "seit der Flut schwimmen sogar Koi-Karpfen in der Ahr, die aus Gartenteichen in den Fluss gespült wurden", berichtet er - verfolgt Tamara Orschler damit auch das Ziel, "die Jugendlichen wieder angstfrei an die Ahr zu bekommen".
Text: Verena Bretz, Fotos: Verena Bretz, Tamara Orschler