Hochwasser in Stolberg
Die Tränen fließen überraschend. Während die Frau eine Liste mit den Dingen erstellt, die ihr das Hochwasser im vergangenen Juli genommen hat, kramt sie in ihrer Tasche nach Fotos. Plötzlich muss sie weinen. Doris Ganser kennt solche Situationen und stoppt die Beratung. "Was die Menschen in diesen Momenten gar nicht brauchen, ist Druck", sagt die Psychotherapeutin. Sie arbeitet beim Verein WABe des Diakonischen Netzwerks Aachen, der sozial benachteiligte Menschen unterstützt. Seit zehn Monaten ist Doris Ganser zusätzlich Fluthilfeberaterin im mobilen Team der Diakonie in Stolberg. Heißt: Sie tröstet und hört zu, informiert die Menschen über finanzielle und psycho-soziale Hilfsangebote und unterstützt sie beim Ausfüllen der Anträge. "Oft scheitert es daran, dass die Menschen keine E-Mailadresse haben oder gar nicht die Kraft aufbringen, sich zu organisieren", berichtet Ganser. "Aber es gibt auch immer noch Betroffene, die nicht wissen, welche Hilfen ihnen zustehen und wie sie das Geld bekommen können."
Fluthilfeberaterin Doris Ganser ist auch Psychotherapeutin. Während der Beratung fließen bei manchen Betroffenen Tränen.
Gemeinsam helfen
Im Gespräch mit Kollegen und Kolleginnen anderer Träger kam deshalb vor rund vier Wochen die Idee auf, in Stolberg eine Gemeinschaftsaktion zu starten: "Wir wollen mit unserer Beratungswoche zeigen, dass wir bleiben und gemeinsam versuchen werden, die Lücken zu schließen, die es bei der Hilfe noch gibt", erklärt Leonie Frings, Projektleiterin bei WABe und Leiterin des Stolberger Fluthilfeteams. "Jeder von uns hat zwar andere Ansätze und Methoden", so Frings weiter. "Aber wo es Sinn macht, arbeiten wir zusammen und können so den Menschen individuell und bedarfsgerecht helfen."
Auch beim Vorbereiten der Beratungswoche steuerte jedes Team seinen Teil bei: Die AWO-Gruppe etwa hat die täglich wechselnden Locations organisiert, das Caritas-Team die Verpflegung, das WABe-Team hat die Öffentlichkeitsarbeit übernommen. Schließlich konnten Interessenten an fünf Tagen im Mai jeweils zwischen 14 und 19 Uhr die Beratung nutzen. Frings: "Wir haben uns bewusst für die Nachmittagsstunden entschieden, damit auch Berufstätige kommen können."
Verschiedene Träger haben in Stolberg gemeinsam eine Beratungswoche für Betroffene der Hochwasserkatatsrophe organisiert.
Erfolgreiche Aktion
"Ich muss sagen, wir haben von Tag eins an sehr gut zu tun", erzählt Doris Ganser in einer kurzen Pause. Etwa fünf bis sechs Gespräche führe sie pro Schicht, bei den Kollegen und Kolleginnen der anderen Träger sei es ähnlich. "Das macht mehr als 30 Beratungen am Tag – richtig ordentlich", sagt sie. Deshalb sind sich die Organisatoren schon jetzt einig, dass sie die Aktion im Herbst wiederholen möchten. Einige Betroffene haben im lokalen Anzeigenblatt und über die Sozialen Medien von dem Angebot erfahren, andere über Mund-zu-Mund-Propaganda, bei vielen war es der mehrsprachige Flyer, der sie an diesem Nachmittag in den historischen "Kupferhof" geführt hat: ein prunkvolles Anwesen, das Brautpaare gerne für ihre standesamtliche Trauung buchen. Mit einer geschwungenen Steintreppe, hohen Stuckdecken, Kristallleuchtern, Parkettboden, dunkler Holzvertäfelung, roten Teppichen in den langen Fluren sowie einer parkähnlichen Anlage.
"Hier hätte ich gerne eine Wohnung", sagt eine ältere Dame und lacht, als sie mit einem Zettel in der Hand das Gebäude verlässt. Auch die 68-jährige Stolbergerin hat in der Nacht auf den 15. Juli 2021 den Großteil ihrer Möbel verloren, die Zimmer sind noch immer unbewohnbar, Schimmel macht sich breit. Die Beratung jedoch hat sie nicht etwa für sich, sondern für ihren 92-jährigen Nachbarn aufgesucht. Ihm will sie helfen. "Und jetzt habe ich tatsächlich eine Liste mit allen Dingen, die er für seinen Antrag benötigt", berichtet sie. "Das ging ganz schnell, unkompliziert, und alle waren so freundlich zu mir." In den nächsten Tagen habe sie einen Termin im Fluthilfe-Büro, "und dann machen wir gemeinsam alles fertig".
Sozialarbeiter Obaida Dehna gehört zum Fluthilfeteam in Stolberg und unterstützt eine Frau, die zur Beratungswoche in den Kupferhof gekommen ist.
Hilfe für die Seele
So wie ihr geht es vielen. "In den meisten Gesprächen in dieser Woche stellen wir einen ersten Kontakt her, sagen den Leuten, was sie für den Antrag benötigen, und vereinbaren dann einen Folgetermin", erzählt Obaida Dehna, Sozialarbeiter und Fluthilfe-Berater der Diakonie. Er selbst konnte an diesem Nachmittag aber bereits eine Betroffene unmittelbar an die Seelsorger vermitteln, die ebenfalls zum mobilen Team gehören. "Eigentlich wollte die Frau nur einen Antrag auf Haushaltsbeihilfe stellen. Aber im Gespräch kam heraus, dass sie völlig kraftlos und viel schwerer traumatisiert ist, als es ihr bewusst war", so Dehna weiter.
Der junge Mann hilft allen, die zu ihm kommen. "Wir schicken hier keinen weg und füllen aus, was nötig ist." Längst sind er und seine Teamkollegen fit im Formulare ausfüllen. Doris Ganser sagt: "Zu Beginn brauchte ich etwa 45 Minuten, um mich durch den Antrag zu arbeiten, mittlerweile bin ich in 20 Minuten fertig." Mühsamer sei das Scannen der einzureichenden Rechnungen: "Das kann schon mal zwei Stunden dauern."
Überall in Stolberg sind die Folgen des Hochwassers noch sichtbar. Hier steht das mobile Team am Vichtbach. Dessen Wasser hat eine komplette Mauer weggespült.
Schäden noch sichtbar
Etwa 56.000 Einwohner hat Stolberg, rund 10.000 Menschen sind vom Hochwasser betroffen. "Glücklicherweise gab es bei uns keine Todesopfer", sagt Doris Ganser. "Aber immer noch ist viel zerstört." Das wird beim Spaziergang durch das Mühlenviertel deutlich. Dort ist die Vicht, ein breiter, aber sehr flacher Bach, in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli des vergangenen Jahres mit zerstörerischer Kraft durch den Stadtteil geschossen. Ganser: "In unserem alten Büro an der Rathausstraße stand das Wasser 1,60 Meter hoch, Autos schwammen vorbei, nebenan hat sich ein Baum durch das Schaufenster gebohrt."
Die meisten Läden, Imbisse und Cafés stehen immer noch leer und sind mit Sperrholz verrammelt. Es fehlt an Handwerkern und dem nötigen Material. Viele Bewohner sitzen tagsüber auf Stühlen an der Straße, wo sich der Sperrmüll stapelt, eine große Gruppe versammelt sich regelmäßig vor dem Sozialkaufhaus der WABe. Die Gegend gilt als eher sozial schwach, viele Bewohner hatten gar keine Versicherung, als die Flut kam. "Aber Geld allein reicht nicht", betont Doris Ganser, die viele Betroffene schon vor dem Hochwasser über ihre Arbeit bei der WABe kannte. "Wir müssen die Menschen darin bestärken, für sich selbst einzustehen und jetzt endlich aktiv zu werden."
Text: Verena Bretz, Fotos: Frank Schultze/DKH