19. Mai 2022

Krieg in der Ukraine

Ein Dorf wird zum Zufluchtsort

Nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine kommen viele Geflüchtete in der Republik Moldau an. Auch die Kindernothilfe ist seitdem in dem ohnehin schon armen Land aktiv und hat in der Organisation Concordia einen Partner gefunden, der seit Jahren vor Ort arbeitet. Für viele Flüchtlinge wird Tudora zum ersten Hoffnungsschimmer: Das kleine Dorf ist keine zehn Kilometer vom Grenzübergang entfernt.

  • Die kleine Yana (5) aus Odessa malt regelmäßig Bilder für ihren Freund Fedor, der im Rollstuhl sitzt.
  • Kinder aus dem Dorf und geflüchtete Kinder aus der Ukraine basteln gemeinsam.
  • Ältere Menschen sitzen in einem Raum und lernen. Ein Mann spielt Akkordeon.
  • Kinder spielen im Zentrum in Tudora. Die Mütter schauen zu.
  • In dem Dorf Tudora stehen viele Häuser leer.

Von Tudora aus kann man Richtung Odessa blicken und das Schwarze Meer sehen. Die Heimat scheint so nah, die Väter, Brüder, erwachsenen Söhne, die sie zurückgelassen haben. Und doch sind sie für die Frauen und Kinder, die aus der Ukraine hierher geflüchtet sind, grausam unerreichbar. Seit Beginn des Krieges fliehen Tausende Menschen über den kleinen Grenzübergang in Palanca nach Moldau, eines der ärmsten Länder Europas. Tudora, ein Dorf, keine zehn Kilometer von dort entfernt, wird zum ersten Hoffnungsschimmer für sie. Im Concordia-Zentrum nehmen Mitarbeitende aus Moldau und viele Freiwillige aus der Bevölkerung sie in Empfang.

Drei Helfende in roten Jacken verteilen an der Grenze Hilfsgüter an die Kriegsflüchtlinge.

Mitarbeitende verteilen am Grenzübergang Hygieneartikel, Spielzeug und Wasser an die Kriegsflüchtlinge. 

Große Gastfreundschaft

Nach oft stundenlangem Warten kommen sie unterkühlt und erschöpft dort an und werden erst einmal mit heißem Tee und einer warmen Mahlzeit versorgt. Die Helferinnen und Helfer vermitteln Unterkünfte für diejenigen, die bleiben wollen, sie organisieren Fahrten in die Hauptstadt Chișinău oder wohin auch immer für die anderen, die wegwollen. Sie setzen sich auch selbst ins Auto und bringen die traumatisierten Menschen zur nächsten Station ihrer Flucht. Mittlerweile sind fast 440.000 Menschen (Stand 26. April) in Moldau angekommen. Etwa ein Viertel von ihnen ist geblieben, denn sie sagen: "Wir wollen nicht weiter weggehen aus der Grenzregion, wir wollen wieder zurück, sobald alles vorbei ist!" Odessa, Mariupol, Mykolajiw, so heißen ihre Heimatstädte, und dort wollen sie auch wieder hin.

Veronika Mocan, die Leiterin des Zentrums in Tudora, steht im geöffneten Tor. Jeder im Dorf kennt sie.

Veronika Mocan, die Leiterin des Zentrums in Tudora, ist gut vernetzt und im ganzen Ort bekannt. 

Gut vernetzt

Dreh- und Angelpunkt der Flüchtlingshilfe im Dorf ist Veronika Mocan, die Leiterin des Zentrums in Tudora. Gut vernetzt und im ganzen Ort bekannt war sie schon vor Kriegsausbruch, doch nun ruft ständig jemand an, der Hilfe braucht. Vor allem in den ersten Wochen, in denen so viele Geflüchtete kamen, war sie diejenige, die die Arbeit koordiniert hat. "Ich konnte viele ukrainische Familien bei 28 Gastfamilien unterbringen", sagt sie. "Die Hilfsbereitschaft ist groß für so ein kleines Dorf. Die Gastfamilien sowie diejenigen, die sie aufgenommen haben, bekommen Unterstützung aus unserem Zentrum. Vier Mütter mit ihren Kindern leben im Concordia-Haus für Geflüchtete. Unsere Mitarbeitenden besuchen sie und die Familien regelmäßig und bringen Lebensmittel, Hygieneartikel und was sie sonst noch brauchen vorbei."

Ältere Menschen sitzen an Tischen und essen gemeinsam zu Mittag.

Treff der Generationen: Ältere Menschen essen in dem Zentrum gemeinsam zu Mittag; auch Kinder sind dabei.

Alt und Jung

Viele Dörfer in Moldau geben – wie Tudora – ein trauriges Bild ab. Die meisten Häuser stehen leer, die Mehrheit der arbeitenden Generation ist aus Armut und Mangel an Perspektiven weggezogen. Rund ein Drittel der Moldauerinnen und Moldauer arbeitet im Ausland. Zurück bleiben die Alten in bescheidenen Behausungen, manchmal werden auch die Enkelkinder bei ihnen gelassen. Viele sind mit steigendem Alter überfordert, sich um die Kleinen zu kümmern. Finanziell fehlt es oft an einfachsten Dingen, zum Beispiel an Holz zum Heizen. Als größte Hilfsorganisation im Land betreibt Concordia Zentren in mehr als 50 Gemeinden in Moldawien. Wie in Tudora sind sie oft sozialer Treffpunkt im Dorf. Das Projekt in Tudora gibt es seit 2008. Es ist Sozial- und Lernzentrum für Kinder und zugleich Altenpflegezentrum – und vereinigt damit Alt und Jung unter einem Dach.

14 Seniorinnen und Senioren leben zurzeit dort. Nachmittags kommen Kinder aus armen Familien hinzu und bringen Leben ins Zentrum, worüber sich alle freuen. Sie erhalten ein warmes Essen und können lernen. Darüber hinaus liefern Mitarbeitende des Zentrums das tägliche Mittagessen an ältere Menschen und Familien, die nicht mobil und auf Hilfe angewiesen sind. Das ist die Arbeit des Zentrums an normalen Tagen. Jetzt kommt die Hilfe für die Menschen aus der Ukraine hinzu.

Die fünfjährige Yana hat ein Bild für Fedor gemalt. Der alte Mann sitzt im Rollstuhl.

"Onkel Fedor", ein älterer Bewohner, ist Yanas Freund. Die Fünfjährige malt ihm jeden Tag mindestens drei Bilder.

Besondere Freundschaft

Auch Yana und Fedor besuchen das Zentrum. Yana (5) ist mit ihrer Mutter und beiden Geschwistern aus Odessa geflohen. Sie liebt es, zu tanzen und sich zu bewegen. Die Familie lebt im Concordia-Haus für Geflüchtete, neben drei weiteren ukrainischen Frauen und ihren Kindern. Das Haus ist zehn Gehminuten vom Multifunktionszentrum entfernt. Dort verbringen Mütter und Kinder viel Zeit. Zwischen "Onkel Fedor", einem älteren Bewohner, und Yana hat sich eine ganz besondere Freundschaft entwickelt. Yana kurvt mit dem im Rollstuhl sitzenden Senior durchs Haus, zwischendurch malt sie ihm jeden Tag mindestens drei Bilder. Wie die meisten Menschen in dieser Region spricht auch Fedor russisch, weshalb sich die beiden verständigen können. "Ich bin froh, dass hier so viele Kinder sind", sagt er. "Durch sie habe ich meine Lebensfreude wiedergefunden." Seine Kinder und Enkel wohnen alle im Ausland.

Geflüchtete warten in einer langen Schlange am Grenzübergang in Palanca.

Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine warten an dem kleinen Grenzübergang in Palanca.

Immer mehr Routine

"In den vergangenen Wochen waren wir in einer Art Ausnahmezustand", berichten die Mitarbeitenden vor Ort, "aber mittlerweile kehrt mehr Routine ein. Die Überlastung durch die neue Situation hat viel Kraft gekostet, inzwischen läuft alles seinen Gang und wir haben Zeit, Pläne für die mittelfristige Zukunft aufzustellen. Aber die Telefone laufen nach wie vor heiß." Denn die Leiterinnen für Moldawien, Tatiana Balta und Viorica Matas, erhalten laufend Anfragen von anderen internationalen Organisationen mit Erfahrung in Katastropheneinsätzen, denn viele waren noch nie in Moldau aktiv, deshalb fehlen ihnen die Infrastruktur und die Ansprechpersonen. Sie alle bereiten sich auf einen möglichen zweiten großen Ansturm an der Grenze vor. Sobald Odessa und umliegende Regionen angegriffen werden, werden wieder Tausende versuchen, über den Grenzübergang in Palanca zu gelangen. Auch ihnen soll schnellstmöglich geholfen werden.

Eine Betreuerin unterstützt die Kinder beim Lernen im Zentrum in Tudora.

Im Zentrum in Tudora können die Kinder lernen oder spielen und werden dabei betreut.

Spezielle Workshops

In Moldau war die Angst, dass der Krieg ins eigene Land überschwappt, anfangs sehr groß. Die Sirenen liefen heiß, es gab keine Nacht, in der man zur Ruhe kommen konnte. Im Team stellten sich die Fragen: Wie soll man diese Situation jungen Menschen kindgerecht erklären – sowohl den einheimischen wie auch den geflüchteten Mädchen und Jungen aus der Ukraine? Wie viel von der Wahrheit darf man ihnen überhaupt vermitteln? Mittlerweile konnte mit Geldern der Kindernothilfe ein Workshop zur Arbeit mit traumatisierten Kindern umgesetzt werden, weitere Schulungen für Mütter, Kinder und Mitarbeitende sind geplant. Dabei soll es um Traumata, Kinderhandel und Kinderschutz gehen. Concordia ist gerade dabei, eine eigene Abteilung mit psychologischem Fachpersonal aufzubauen. Die Expertise der Kindernothilfe auf diesem Gebiet soll dabei helfen.

Text: Katharina Wagner (Concordia Sozialprojekte), Fotos: Benjamin Kaufmann für Concordia Sozialprojekte

Ihr/e Ansprechpartner/in
Verena Bretz
Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
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