Wohnungslosenhilfe
Surfen im Internet? Es gab eine Zeit, in der Dieter W. davon nur träumen konnte. Schließlich hatte er weder Arbeit noch Wohnung, von einem Smartphone oder einem Computer ganz zu schweigen. Doch das änderte sich, als Dieter W., der eigentlich anders heißt, in einer Einrichtung der Diakonie Michaelshoven für Menschen in Wohnungsnot unterkam. Dort bekam er die Möglichkeit, mit einem Tablet ins Internet zu gehen. Und was in der analogen Welt kaum möglich gewesen wäre, gelang ihm dann online. "Durch die Recherche im Netz stieß er auf ein Bildungszentrum", berichtet Andrea Steinbinder, Leiterin des Regionalteams Nord der Diakonie Michaelshoven. Dort bekam Dieter W. die Zusage für eine Umschulung und ist heute Fachkraft für Schutz und Sicherheit.
Im Internet und über Soziale Medien können Wohnungslose Kontakte aufnehmen und pflegen.
Neue Chancen
"Gerade wohnungslosen Menschen bieten digitale Kommunikationsmöglichkeiten neue Chancen", weiß Susanne Hahmann, Geschäftsführerin Soziale Hilfen bei der Diakonie Michaelshoven. Denn im Internet und über die Sozialen Medien könnten Menschen Kontakt aufnehmen und am Leben teilnehmen, ohne gleich als Wohnungslose wahrgenommen zu werden. Wenn schon die eigenen vier Wände fehlen, so bietet das Netz zumindest ein digitales Zuhause. "Man kann als wohnungsloser Mensch im Internet ein relativ normales Leben führen", sagt Hahmann.
Dennoch werden die Chancen der Digitalisierung bislang kaum für die Arbeit mit wohnungslosen Menschen genutzt. Hahmann trieb das Thema allerdings schon seit Jahren um. "Ich habe beobachtet, dass sich immer mehr ins Netz verlagert und habe mich gefragt: Warum soll das nicht auch für Wohnungslose oder Menschen in Wohnungsnot gelten?" Allerdings sei sie mit dem Thema nicht durchgedrungen, erinnert sich Hahmann an vergebliche Versuche, Projektgelder für die Digitalisierung dieses Arbeitsbereichs zu bekommen. Die Pandemie brachte die Wende.
Die Mitarbeitenden können digital kommunizieren.
Infrastruktur geschaffen
Nun konnte die Wohnungslosenhilfe der Diakonie Michaelshoven mit finanzieller Hilfe der Stiftung Wohlfahrt ein Digitalisierungsprojekt starten. Mit den Geldern in Höhe von knapp 90.000 Euro sei zunächst einmal eine Infrastruktur geschaffen worden, die es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglichte, digital zu kommunizieren, berichtet Hahmann. Mittlerweile gibt es in allen Standorten ein leistungsfähiges WLAN. Dann wurden kostengünstige Smartphones und Tablets angeschafft, die an Hilfesuchende weitergegeben werden können. Und nicht zuletzt wurde mit einer halben Stelle ein Digital-Berater eingestellt, der wohnungslose Menschen, aber auch die Belegschaft im Umgang mit der Technik berät und schult.
Experte Jan Orlt erklärt: "Die Bedeutung von digitalen Zugängen steigt."
Digitale Teilhabe
"Wir beobachten, dass der Zugang zum Internet den Menschen, die bei uns Hilfe suchen, viel bringt und sie teilhaben können", sagt Andrea Steinbinder. Da sei etwa der Bewohner einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe, der regelrecht aufblühte, nachdem er ein Tablet erhalten habe. "So konnte er Kontakte pflegen und am Leben teilhaben." Der Mann engagierte sich zum Beispiel als Bewohnervertreter und nahm an Online-Veranstaltungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe teil.
Noch ist die Wohnungslosenhilfe der Diakonie Michaelshoven mit ihrem Digital-Projekt in der Arbeit mit Menschen in sozialen Schwierigkeiten eine Ausnahme. Doch das könnte sich bald ändern. "Die Bedeutung von digitalen Zugängen steigt. Wir müssen uns darauf einstellen, digitale Möglichkeiten zu nutzen", erklärt Jan Orlt, Geschäftsführer des Evangelischen Fachverbandes Wohnungslosenhilfe Rheinland-Westfalen-Lippe. Deshalb beschäftigte sich im August auch ein Fachtag des Fachverbandes mit der Frage, wie sich die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft in einem Arbeitsfeld nutzen lässt, das bislang von unmittelbaren persönlichen Kontakten geprägt ist. "Wir stehen da noch ganz am Anfang", stellt Orlt fest. Aber der Fachverband mache sich nun auf den Weg, die digitale Zukunft zu gestalten. "Ich habe die Vorstellung, dass Klienten vielleicht künftig mit ihrem Handy ein Hilfsangebot finden und sich dann über einen Video-Call beraten lassen", sagt Orlt.
Bevor solche Angebote Standard würden, müssten aber noch zahlreiche Fragen geklärt werden. So spielten etwa Belange des Datenschutzes eine Rolle, wenn zum Beispiel über Video-Call persönliche Informationen mit einem Klienten besprochen würden. "Und wie bindet man digitale Angebote in die analogen Arbeitsprozesse ein?" Denn die direkte Begegnung werde weiter Hauptbestandteil der Arbeit bleiben, ist sich Orlt sicher. "Wir können jedoch nicht neben dem normalen Beratungsalltag Videoanrufe annehmen." Zudem müssten fachliche Fragen geklärt werden. Denn die Kommunikation über digitale Wege unterscheide sich von der direkten, persönlichen Ansprache. "Wer eine Anfrage über WhatsApp stellt, erwartet zum Beispiel eine schnelle Antwort", weiß Orlt.
Susanne Hahmann, Geschäftsführerin Soziale Hilfen bei der Diakonie Michaelshoven, sagt: "Man kann als wohnungsloser Mensch im Internet ein relativ normales Leben führen."
Nicht zum Null-Tarif
Mit den neuen Anforderungen digitaler Kommunikation beschäftigt sich auch die Wohnungslosenhilfe der Diakonie Michaelshoven. So sei es bereits vorgekommen, dass eine Klientin ihrer Betreuerin Fotos aus ihrem privaten Alltag geschickt habe, berichtet Hahmann. "Da gilt es dann, die Beziehung freundlich, aber bestimmt auf die professionelle Ebene zurückzubringen." Gerade in ländlichen Regionen biete die digitale Kommunikation aber große Vorteile, beobachtet Hahmann. "Gerade wenn es um kleine organisatorische Fragen geht, kann man mal eben Rücksprache halten und sich weite Fahrten mit dem Auto sparen." So könnten etwa Bescheide von Ämtern kurzerhand der Beraterin zur Prüfung geschickt werden.
Klar sei allerdings, dass es die Digitalisierung in der sozialen Arbeit nicht zum Nulltarif gebe, sind sich Hahmann und Orlt einig. "Will man digitale Angebote machen, braucht es zusätzliche personelle und technische Ressourcen sowie Finanzmittel", sagt Orlt.
Die Ausgabe von Smartphones oder Tablets an Hilfsbedürftige ist nötig, sagt Susanne Hahmann.
Finanzierung klären
Die Förderung für das Digital-Projekt bei der Wohnungslosenhilfe der Diakonie Michaelshoven läuft im Herbst aus. Nach dem Ende der Förderung durch die Stiftung Wohlfahrtspflege war das Projekt noch ein weiteres Jahr durch eine private Spenderin finanziert worden. Aber auch nach Ende des Projekts sei die Ausgabe von Smartphones oder Tablets an Hilfsbedürftige nötig, sagt Hahmann. "Es ist notwendig, mit den Kostenträgern über die Finanzierung zu sprechen." Denn gesellschaftliche Teilhabe sei ein Grundrecht. Und ohne digitale Technik und Zugang zum Internet sei diese heute nicht mehr möglich.
Text: Claudia Rometsch, Fotos: Gerd Altmann, Bretz, Diakonie Michaelshoven, Pixabay