Nach der Flut
Unmittelbar nach der Flut haben viele Betroffene gemeinsam angepackt, so auch im Ahrtal in der Martin Luther Kirche. Doch im Laufe der Monate hat der Zusammenhalt in vielen Orten abgenommen.
Mitte Juli hat sich die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz bereits zum zweiten Mal gejährt. Ebenso lange sind auch schon Mitarbeitende der Diakonie Katastrophenhilfe Rheinland-Westfalen-Lippe (DKH RWL) in den betroffenen Regionen im Einsatz. Sie vermitteln den Menschen Spendengelder, beraten sie bei Anträgen und leisten psychosoziale Unterstützung. Während umfassende Einzelfallhilfen weiterlaufen, lenkt die DKH RWL nun auch den Fokus auf die Quartiersarbeit. Mit dem Ziel: Gemeinschaften vor Ort sollen nachhaltig gestärkt werden. Wie das gelingen kann, darüber haben wir mit Elena Weber (Fluthilfekoordinatorin DKH RWL) und Markus Koth (Fluthilfekoordinator DKH) gesprochen.
Warum fördert die DKH RWL jetzt - gut zwei Jahre nach der Flut - das soziale Miteinander in den betroffenen Regionen?
Markus Koth Weil die Folgen der Flut immer noch sichtbar und spürbar sind. Von Beginn an hat die DKH RWL die Unterstützung der Flutbetroffenen als ganzheitliche Aufgabe betrachtet. Die einzelnen Förderlinien greifen ineinander und ergänzen sich: Unmittelbar nach der Flut und in den darauffolgenden Monaten wurden die Menschen finanziell und materiell mit Soforthilfen wie Bargeld und Trockengeräten sowie mit Haushaltsbeihilfen unterstützt - stets flankiert von psychosozialen Angeboten. Nach dem gestarteten Wiederaufbau ist es nun an der Zeit, an mehreren Standorten nachhaltig Perspektiven für die Menschen zu entwickeln. Die Quartiersarbeit soll die Nachbarschaften und die sozialen Gemeinschaften in den vom Hochwasser betroffenen Regionen stärken und präventiv deren Widerstandsfähigkeit gegen künftige Katastrophen verbessern.
Elena Weber Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, den Blick auf die Gemeinschaften zu richten und dafür mit der Quartiersarbeit zu starten. In den ersten Wochen und Monaten mussten die Betroffenen auf sich schauen. Sie haben sich um ihre Grundbedürfnisse gekümmert und mussten erst einmal ihre Häuser und Gärten wieder aufbauen. Das war in den vergangenen zwei Jahren zwangsläufig ihr Fokus. Doch jetzt wollen wir die positiven Ansätze in den Gemeinden, die es durchaus schon gibt, ausbauen und vorhandene Potentiale stärken. Denn schließlich müssen nicht nur Steine wieder aufgebaut werden, sondern auch die sozialen Gefüge, die die Menschen ausmachen.
"Die Quartiersarbeit hat zum Ziel, das Wir-Gefühl in den Nachbarschaften wieder zu beleben", sagt Elena Weber, Fluthilfekoordinatorin der Diakonie Katastrophenhilfe RWL.
Was genau versteht man eigentlich unter Quartiersarbeit?
Elena Weber Bei Quartiersarbeit geht es darum, die Bedarfe der Menschen in einem Quartier – sei es ein Straßenzug, ein Dorf oder ein ganzer Stadtteil – zu hören, zusammenzufassen und schließlich einen Weg zu finden, diese Wünsche zum Stärken der sozialen Gemeinschaften strukturiert umzusetzen. Ziel ist es, das Zusammenleben und den Zusammenhalt zwischen Jung und Alt, Groß und Klein oder Betroffenen und Nicht-Betroffenen besser zu machen - und zwar langfristig und nachhaltig. Zur Quartiersarbeit gehört es in der Regel, Räume für Begegnung zu schaffen, für Beratung und kulturelle Angebote. Ebenso zählt die Koordination des freiwilligen Engagements dazu. Soziale Teilhabe und Partizipation spielen dabei immer eine zentrale Rolle. Das heißt: Alle Stimmen werden gehört, alle machen mit.
Was ist anders an der Quartiersarbeit in den Flutregionen?
Markus Koth Die Quartiersarbeit in den Flutregionen zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwei zentrale Elemente verbindet, die so sonst nicht zusammenkommen: die klassische sozialarbeiterische Quartiersarbeit und die Katastrophenprävention.
Elena Weber Und das machen wir nicht einfach so, sondern weil die Betroffenen vor Ort genau diese Verbindung erlebt haben und stärken möchten. In der Flut sind Menschen gestorben. Gleichzeitig sind Menschen in der Not zusammengekommen, haben sich gegenseitig geholfen und gemeinsam gegen die Katastrophe angekämpft. Die Flut war der Auslöser dafür, dass beliebte Treffpunkte wie Gaststätten, Vereinsheime, Spielplätze und Sportanlagen zerstört wurden. Für Kinder und Jugendliche gab es plötzlich keine Angebote mehr. Der Sportverein hat keine Turnhalle mehr. Der Tanzclub vermisst seinen Probenraum. Viele Menschen mussten ihre Wohnorte verlassen und konnten bis heute nicht zurückkehren – all das sind Folgen der Katastrophe, unter denen die Gemeinschaft leidet. Die Quartiersarbeit hat zum Ziel, das Wir-Gefühl in den Nachbarschaften wieder zu beleben. Die Menschen sollen sich gegenseitig unterstützen und für die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen sensibilisiert werden. Gleichzeitig sollen die Menschen so gestärkt werden, dass sie für mögliche weitere Katastrophen gewappnet sind.
Markus Koth Mit dem sogenannten Quartiersmanagement soll der soziale Zusammenhalt in den Gemeinden gestärkt werden, was auch für die Katastrophenprävention eine wichtige Rolle spielt. Was wir in vielen Ländern weltweit sehen, gilt auch in Deutschland: Im Moment einer Katastrophe braucht es funktionierende Nachbarschaftshilfe. Niemand kann vor dem Hintergrund des Klimawandels heute ausschließen, dass sich solche Unwetter wie im Juli 2021 wiederholen. Aber gemeinsam kann man mehr tun, damit daraus keine Katastrophe wird.
DKH-Fluthilfekoordinator Markus Koth hat rund um den zweiten Jahrestag der Flutkatastrophe gemeinsam mit Kirsten Schwenke, Vorständin der Diakonie RWL, die betroffenen Gebiete und Personen besucht.
In einigen Regionen haben die Menschen unmittelbar nach der Katastrophe enger zusammengestanden als zuvor. Grundsätzlich ist aber der schwindende Zusammenhalt in vielen Orten ein Problem. Auch in solchen, die nicht von der Flut betroffen sind.
Markus Koth Ja, das ist richtig. Aber dass Gemeinschaften ihren Zusammenhalt verlieren und zentrale Treffpunkte wegfallen, ist meist ein schleichender Prozess. Bei der Flut war das anders: Da kam die Zerstörung von heute auf morgen. Gerade kleine Dörfer haben sich plötzlich grundlegend verändert, weil viele Bewohner und Bewohnerinnen weggezogen sind.
Wie soll die Quartiersarbeit der DKH RWL in der Praxis aussehen?
Elena Weber Wir planen Quartiersprojekte an zehn Standorten in der gesamten Flutregion von Hagen im Norden bis Trier im Süden. Jedes Projekt hat eine Laufzeit von zwei Jahren und ist den Bedarfen der jeweiligen Region angepasst. Wir setzen darauf, dass die Standorte sich vernetzen, sich über ihre unterschiedlichen Ansätze austauschen und voneinander lernen. Wir bringen aber nicht nur Quartiersmanager*innen an jeden Standort, sondern wir statten diese auch mit einem Budget aus, um eine nachhaltige Quartiersarbeit zu sichern, als Partner der Kommunen aufzutreten, Dinge auch tatsächlich umzusetzen und einen echten Unterschied zu machen. Koordiniert wird das Gesamtprojekt von Düsseldorf aus.
Orte wieder zum Leben erwecken und Treffpunkte für die Menschen schaffen - das und mehr kann Quartiersarbeit erreichen.
Wie hoch ist das Budget?
Markus Koth Um den sozialen Wiederaufbau in Dörfern und Gemeinden zu unterstützen, stellt die Diakonie Katastrophenhilfe Rheinland-Westfalen-Lippe 4,2 Millionen Euro bis 2025 bereit.
Und welche Projekte stellen Sie sich vor?
Markus Koth Das können Projekte sein, die die Menschen besser auf künftige Katastrophen vorbereiten. Nicht nur auf Überflutungen, sondern auch auf Hitze. Beispielsweise Bildungsprojekte für Kinder, die dann ihr Wissen in die Familien und Freundeskreise tragen. Wir denken aber auch an Evakuierungspläne. Möglich sind auch Kooperationen mit Senioreneinrichtungen, etwa Trinkpatenschaften für alte Menschen. Denkbar sind auch kleinere gemeinsame Aktionen wie das Entsiegeln von Flächen oder das Pflanzen von Bäumen. In diesem Zusammenhang ist es jedoch wichtig zu betonen: Wir wollen keine parallelen Strukturen zu den Kommunen aufbauen. Vielmehr möchten wir Hand in Hand mit den Kommunen, mit Expert*innen und Einrichtungen zusammenarbeiten und sehen uns gemeinsam agieren. Das gelingt auch über die Stärkung des Ehrenamts.
Elena Weber Insgesamt gilt es bei diesem Projekt, kreativ zu sein und auch mal außerhalb der Norm zu denken. Dafür sind wir auf das Wissen und die Erfahrungen der Menschen vor Ort angewiesen. Wir möchten deren Ideen und Wünsche Realität werden lassen. Denn sie kennen die Probleme vor ihrer Haustür am besten und haben dafür die besten Lösungsansätze – Träumen ist unbedingt erlaubt!
Quartiersarbeit funktioniert auch generationenübergreifend: Seniorenzentren können ebenfalls in die Quartiersarbeit miteinbezogen werden.
Können Sie bereits Standorte für die Quartiersprojekte nennen?
Markus Koth Ein Standort ist Lüdenscheid-Brügge. Dort liegt ein Fokus auf der Sensibilisierung von Grundschulkindern, für die es besondere Bildungsprojekte mit verschiedenen Fachleuten rund ums Thema Klimawandel geben wird. In einem Quartiersprojekt an anderer Stelle sollen im betroffenen Ortskern digitale Anzeigetafeln errichtet werden, um barrierefrei und für alle Menschen sichtbar auf wichtige Themen und Entwicklungen hinzuweisen.
Elena Weber Ein weiteres Quartiersprojekt gibt es in Leichlingen. Dort ist ein Schwerpunkt die Zusammenarbeit mit Seniorenzentren. Vor Ort können die Ressourcen der älteren Menschen genutzt werden. Sie haben den Umgang mit Krisen gelernt und können ihre Erfahrungen an Jüngere weitergeben und so generationenübergreifendes Lernen vorantreiben.
Das Gespräch führte Verena Bretz. Fotos: Bernd Bazin, Bretz, Thomas Lohnes/DKH, Privat, Frank Schultze/DKH
Spenden und Fundraising
Diakonie Katastrophenhilfe RWL
Unter dem Namen Diakonie Katastrophenhilfe RWL haben sich die Diakonie Katastrophenhilfe und das Diakonische Werk Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL) in Kooperation mit der Evangelischen Kirche im Rheinland zusammengeschlossen. Unter einem Dach unterstützen die Organisationen Betroffene der Flutkatastrophe 2021 im gesamten Hochwassergebiet – von Hagen im Norden bis Trier im Süden. Neben mobiler Beratung und psychosozialer Unterstützung bietet die DKH RWL umfassende finanzielle Hilfen für Betroffene an.