Nach der Flut
Gemeinsam mit den dritten Klassen der Grundschule Parkstraße in Brügge blickt Sebastian Wagemeyer an diesem Morgen zurück auf die Flut im Sommer vor zwei Jahren. Die Wassermassen, so berichtet der Bürgermeister von Lüdenscheid, haben damals nicht nur den Kunstrasenplatz im Ort zerstört. Auch die Vereinshalle als beliebter Treffpunkt ist seitdem unbenutzbar. Mehr als 143 Liter Wasser sind im Stadtbezirk Brügge in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 auf einem Quadratmeter Fläche gemessen worden. "Das ist ungefähr so viel wie dieser Turm", sagt Wagemeyer und zeigt auf einen eindrucksvollen Stapel aus 288 Halbliter-Wasserflaschen. "Komplett vermeiden können wir solche Katastrophen auch künftig leider nicht", erklärt er den Kindern. "Aber wir können uns gemeinsam besser darauf vorbereiten, aufeinander aufpassen und uns unterstützen."
Feuerwehrchef Christopher Rehnert und Lüdenscheids Bürgermeister Sebastian Wagemeyer sprechen mit den Kindern über die Flutnacht im Juli 2021.
Unterricht in der Turnhalle
Die außergewöhnliche Unterrichtsstunde mit Bürgermeister Wagemeyer in der Turnhalle der Grundschule Parkstraße markiert den Start des Quartiersprojekts für den Stadtteil Brügge, bei dem die Bildungsreihe mit den Kindern ein wichtiger Baustein sein soll.
An zehn Standorten in von der Flut betroffenen Orten und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz will die Diakonie Katastrophenhilfe Rheinland-Westfalen-Lippe (DKH RWL) solche Quartiersprojekte begleiten und finanziell unterstützen, dafür stellt sie bis zum Jahr 2025 insgesamt 4,2 Millionen Euro zur Verfügung.
Markus Koth, Fluthilfekoordinator der DKH, und Elena Weber, Fluthilfekoordinatorin der Diakonie RWL, während des Pressegesprächs in Brügge.
Strukturen stärken
"An ausgewählten Orten sollen Angebote entstehen, die die klassische Quartiersarbeit mit Maßnahmen zur Katastrophenvorsorge und zur Klimafolgenanpassung vereinen", beschreibt Elena Weber, Fluthilfekoordinatorin der Diakonie RWL, das innovative Konzept. Ansprechpersonen vor Ort werden Quartiersmanager*innen sein. Deren Stellen sowie verschiedene Einzelprojekte werden aus Spendengeldern finanziert. Koordiniert wird das auf zwei Jahre befristete Gesamtprojekt in Düsseldorf bei der Diakonie RWL. "Wir möchten mit der Quartiersarbeit bereits vorhandene soziale Strukturen stärken und bestehende Netzwerke ausbauen", so Weber. "Uns ist es dabei wichtig, dass die Finanzierung sich langfristig auszahlt und die Projekte auch nach der Laufzeit fortgesetzt werden."
Sebastian Wagemeyer (li.), Bürgermeister Stadt Lüdenscheid, und Markus Koth, Fluthilfekoordinator DKH, setzen sich für die Quartiersarbeit ein.
Gut vernetzt
"Als Diakonie Katastrophenhilfe sind wir vornehmlich international im Einsatz", ergänzt Markus Koth, Fluthilfekoordinator der DKH. "Dabei haben wir immer wieder beobachtet, dass die Menschen im Ausland teilweise besser auf solche Katastrophen wie Flut, aber auch Dürre und Brände vorbereitet sind und deren Folgen daher besser abmildern können." Dieses Verhalten wolle man nun auch in den Flutgebieten über die klassisch sozialarbeiterische Quartiersarbeit vermitteln. "Wir sind froh, dass wir mit dem DRK Lüdenscheid einen tollen Partner vor Ort haben, der dieses Projekt umsetzen wird und hier sehr gut vernetzt ist."
Auch die Stadt Lüdenscheid beteiligt sich aktiv am Quartiersprojekt Brügge. "Diese besondere Initiative ist richtig und wichtig, weil wir die Themen Klimaveränderung, Umweltschutz und Katastrophenschutz längst nicht mehr getrennt voneinander betrachten können", sagt Bürgermeister Wagemeyer. Als Kooperationspartner sind außerdem Vereine und Gruppen wie die Jugendfeuerwehr, der Heimat- und Geschichtsverein und die Wetter-AG des Zeppelin-Gymnasiums in Lüdenscheid dabei. "Wir hoffen, dass wir viele Ehrenamtliche motivieren können", so Koth.
Markus Pflüger, Vorsitzender DRK Stadtverband Lüdenscheid, Winfried Lütke-Dartmann von der Stadtverwaltung und Bürgermeister Sebastian Wagemeyer (v.l.) freuen sich auf das Quartiersprojekt.
Gelebte Solidarität
Bürgermeister Sebastian Wagemeyer ist davon überzeugt, dass die Brügger*innen mitziehen werden. "Dass die Menschen hier im Ort zusammenhalten, haben sie bereits während der Flut bewiesen: Niemand hat auf sich selbst geschaut, alle haben sich gegenseitig geholfen, das war gelebte Solidarität - das Wichtigste für eine Gemeinschaft."
Markus Pflüger, Vorsitzender des DRK Stadtverbands Lüdenscheid, hofft daher, dass das neue Quartiersprojekt auf die ganze Region ausstrahlt. "Die sozialen Strukturen sind als Folge der Flut nicht mehr so stabil, viele Aktivitäten sind mittlerweile eingeschlafen", sagt er. "Mit der Unterstützung der Diakonie können wir hoffentlich zu alter Stärke zurückfinden."
Den Kindern hat die Unterrichtsstunde mit ihrem Bürgermeister gut gefallen.
Riesige Chance
Dabei sollen auch die Schülerinnen und Schüler der Grundschule Parkstraße mithelfen, die sich als Teil des Quartiersprojekts im Unterricht mit den Themen Klima, Umweltschutz und Katastrophenvorsorge beschäftigen werden – und die im besten Fall ihr neu gewonnenes Wissen weitertragen: in die Familie, in den Freundeskreis oder den Verein. Auf die Aktionen, die sie in den kommenden zwei Jahren erwarten, freuen sie sich schon jetzt. "Besonders spannend finde ich den Besuch bei der Wetterstation auf dem Dach des Zeppelin-Gymnasiums", sagt Nelly. Und ihre Freundin Luise kann es kaum erwarten, das Gerätehaus der Freiwilligen Feuerwehr zu besichtigen. "Für unsere Schule ist es eine riesige Chance, mit der Bildungsreihe Teil des Quartiersprojekts sein zu dürfen", sagt Schulleiterin Sabine Thiesbrummel. "Die Kinder empfinden das als ein besonderes Zeichen von Wertschätzung. Ich bin mir sicher, dass wir alle gemeinsam etwas richtig Gutes starten können."
Text und Fotos: Verena Bretz