Offene Ganztagsschulen
Mit einem Affenzahn rasen Hannes und Samuel auf ihren großen, roten Dreirädern über den Pausenhof der Grundschule Erholungstraße in Solingen. "Achtung", rufen sie und drehen im letzten Moment lachend vor den Besuchern ab.
Wie schaffen sie das? Denn die Fahrgeräte haben kein Steuer. Lisa Bittlingmayer, stellvertretende Leiterin der Offenen Ganztagsschule (OGS) Erholungstraße, lacht: "Die Dreiräder werden durch die Verlagerung des Körpergewichts gelenkt", erklärt die Erzieherin. "Die Kinder kriegen immer die Kurve."
Ob das auch für den Offenen Ganztag in Nordrhein-Westfalen gilt? Die Politik müsse ganz dringend das Ruder herumreißen, wenn die Ganztagsbetreuung in den Grundschulen nicht zur notdürftigen Aufbewahrung werden solle, meinen die Erzieherinnen der Solinger OGS.
"Wir brauchen den großen Wurf"
Denn ab dem Schuljahr 2026/27 gilt der Rechtsanspruch auf einen OGS-Platz. 130.000 neue OGS-Plätze sollen bis dahin geschaffen werden. Allein in Solingen rechnen die Träger damit, dass sich der Bedarf verdoppeln wird.
"Wir brauchen jetzt den großen Wurf", fordert Ulrike Kilp, Geschäftsführerin der Diakonie Solingen. Unter anderem müsse auch dringend in die Ausbildung von Fachkräften investiert werden. "Und zwar jetzt. Denn die künftigen Fachkräfte müssen ja erst einmal eine dreijährige Ausbildung machen." Schon heute kämpfen die OGS in Nordrhein-Westfalen mit knappen finanziellen und personellen Ressourcen. "Ich bin seit 17 Jahren OGS-Leitung und genauso lange knapsen wir", sagt Simone Tilmes-Kolbe.
In der OGS Erholungstraße, die von der Solinger Diakonie getragen wird, flitzen die Kinder trotzdem fröhlich über den Schulhof. Aus einem neuen Anbau, in dem unter anderem die Mensa untergebracht ist, strömt der Duft von Gebäck.
Backen, Tipis bauen, wandern
"Wir haben gerade Osterhasen gebacken. Die wollen wir jetzt mit Zuckerguss verzieren", erklären die Drittklässlerinnen Greta und Luna während sie in die Küche laufen. Etwas Süßes zwischendurch können sich die Kinder hier gut erlauben.
"Wir haben keine übergewichtigen Kinder hier in der OGS", sagt Tilmes-Kolbe. Denn die OGS bietet das ganze Jahr über viel Bewegung an der frischen Luft. Die Kinder sind zum Beispiel mit der Wander- oder Outdoor-AG im benachbarten Wald unterwegs, bauen Tipis oder gehen zum Bio-Bauern.
Doch auch das beste pädagogische Konzept werde auf Dauer nicht ausgleichen können, dass für die wachsenden OGS zu wenige Räume vorhanden sind, sagt Kilp.
Weichen für die Zukunft stellen
Nach Ansicht der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege muss der Offene Ganztag in Nordrhein-Westfalen auf eine neue Grundlage gestellt werden, um die enormen Herausforderungen zu bewältigen.
Jetzt würden die Weichen für die Zukunft des Offenen Ganztags gestellt, sagt Tim Rietzke, Geschäftsfeldleiter Familie und junge Menschen bei der Diakonie RWL. "Es reicht aus unserer Sicht nicht, ganz viele Plätze zu schaffen." Mit dem quantitativen Ausbau der OGS müsse auch ein qualitativer Ausbau einhergehen. An Qualitätsstandards fehlt es nämlich bislang im Offenen Ganztag. Im Gegensatz zur Vorschulbetreuung in der Kita gebe es für die OGS keinerlei Vorgaben für den Personalschlüssel oder die Raumausstattung, kritisiert Rietzke.
Die Weichen für die Zukunft der OGS müssen jetzt gestellt werden, fordert Tim Rietzke, seit April Vorsitzender des Arbeitsausschusses für Familie, Jugend und Frauen in der LAG FW.
Kompetenz der Träger nutzen
Wollen die OGS trotzdem die Qualität halten, müssen die Träger selbst ran. "Wir buttern deshalb aus Kirchensteuermitteln zu", sagt die Solinger Diakonie-Geschäftsführerin Kilp. Abhängig von der Finanzierung durch Kommune oder Träger gibt es deshalb große Unterschiede bei der Ausstattung der OGS im Land.
Damit sich das in Zukunft ändert, fordert die Freie Wohlfahrtspflege, den Offenen Ganztag in einem eigenständigen Gesetz auf Grundlage des Jugendhilferechts zu verankern. "Damit könnten für den Offenen Ganztag dann auch Jugendhilfestandards gelten", sagt Rietzke.
Im Moment vernetzt der jeweilige Träger unterschiedliche Expertisen an einem Ort. Das wissen auch die Erzieherinnen der OGS Erholungstraße sehr zu schätzen. "Wenn es besondere Anforderungen oder Schwierigkeiten gibt, können wir jederzeit auf die Fachkompetenz im eigenen Haus zurückgreifen", erklärt Simone Tilmes-Kolbe.
Familien weitere Hilfe anbieten
Ein Vorteil, den die Erzieherinnen der OGS Erholungstraße sehr zu schätzen wissen. "Wenn es besondere Anforderungen oder Schwierigkeiten gibt, können wir jederzeit auf die Fachkompetenz im eigenen Haus zurückgreifen", erklärt Simone Tilmes-Kolbe.
Bei Bedarf können die OGS-Mitarbeiterinnen Familientherapeut*innen und Kinderschutzfachkräfte hinzuziehen oder in die Hilfsangebote der Diakonie Solingen für Familien vermitteln. Darin liege die besondere Kompetenz der Träger der Freien Wohlfahrt, betont Rietzke.
Der Rückenwind durch den Träger Diakonie ist einer der Gründe, warum Simone Tilmes-Kolbe und Lisa Bittlingmayer trotz aller Herausforderungen gerne in der OGS arbeiten. Aber auch die Arbeit mit den Kindern begeistert die beiden Erzieherinnen. "Wenn Kinder mit leuchtenden Augen vor einem stehen, dann weißt du, du machst da etwas richtig", sagt Lisa Billingmayer.
Kinder gut durch den Schultag bringen - das will die OGS Erholungstraße in Solingen.
Konzepte gegen Fachkräftemangel
Obwohl die Arbeit mit Grundschulkindern eine erfüllende Aufgabe ist, leiden die OGS jedoch schon jetzt unter dem Fachkräftemangel in pädagogischen Berufen, sagt Kilp. Die LAG FW fordert deshalb von der künftigen Landesregierung ein Maßnahmenpaket.
"Wir brauchen mehr Ausbildungsstätten für soziale Berufe sowie für Erzieherinnen und Erzieher in Nordrhein-Westfalen", fordert auch Helga Siemens-Weibring, Sozialpolitische Beauftragte der Diakonie RWL. Zudem müsse der Seiteneinstieg für Fachkräfte erleichtert werden.
"Der Offene Ganztag ist mehr als nur ein bisschen Mittagessen und Betreuung", betont Kilp. Schließlich gehe es um die Zukunft – die Kinder, denen in einem durchgetakteten Alltag oft sehr viel abverlangt werde. "Und da benötigen sie eine ganz sorgsame und professionelle Begleitung, um gut durch ihr Schulleben zu kommen und sich gesund zu entwickeln."
Wege zu diesem Ziel wollen die Diakonie RWL und die Freie Wohlfahrtspflege am 26. April mit Politikerinnen und Politikern diskutieren. Der Politik-Talk findet in der Düsseldorfer Johanneskirche statt und wird zugleich auf YouTube gestreamt.
Text: Claudia Rometsch, Fotos: Claudia Rometsch/LAG FW, Evangelisches Bildungswerk im Kirchenkreis Duisburg, Diakonie RWL.