Integration von Frauen
"Ich bin Rafaa, wer bist du?", fragt Rafaa Mahmoud und begleitet ihre Worte mit raumfüllenden Gesten: Beim "Ich" zeigt die Syrerin auf sich selbst, dann fließen ihre Hände und Arme weiter und deuten auf Erika Römer. "Ich bin Erika – und wer bist du?", nimmt die Theaterpädagogin die Frage auf und gibt sie mit großen Gesten an die nächste Teilnehmerin weiter.
Die 54-jährige Rafaa Mahmoud ist eine von insgesamt 45 Frauen, die am Projekt "Mutter 2.0" teilgenommen haben. Die Maßnahme der Integrationsagentur Castrop-Rauxel unterstützt Mütter mit Migrationshintergrund ganzheitlich, um ihre Lebenssituation zu verbessern und einen Job zu finden: Mit Deutschunterricht, Bewerbungstraining, Theater-Workshops und vielem mehr.
Sechs der 15 teilnehmenden Frauen, die den Kurs abgeschlossen haben, konnten eine Stelle finden – damit hat das Projekt vier Mal mehr Frauen in den Job gebracht, als das Jobcenter gefordert hatte. Eine Festanstellung hat Rafaa Mahmoud zwar noch nicht gefunden, aber im Projekt konnte sie sechs Wochen bei einer Schneiderin mitarbeiten. Ein erster Schritt auf ihrem Weg zu ihrem Traumjob.
Stolz auf das Projekt: Thorsten Schnelle, Leiter des Kulturzentrums "Agora", ist zufrieden mit "Mutter 2.0". 90 Prozent der Teilnehmerinnen gaben eine positive Bewertung.
Ein echtes Vorzeigeprojekt
"Mutter 2.0" ist eines von vielen Vorzeigeprojekten der Integrationsagentur Castrop-Rauxel. Sie ist im Kultur- und Bildungszentrum "Agora" angesiedelt. Trägerin beider Einrichtungen ist die Griechische Gemeinde, die Mitglied im Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL) ist. Thorsten Schnelle spricht mit Begeisterung von dem riesigen Angebot vor Ort. Der Soziologe und Sozialpädagoge leitet sowohl das Kulturzentrum als auch die Integrationsagentur. "Wir machen hier alles, womit wir Menschen helfen können", betont er. Und die Nachfrage ist groß: "Täglich besuchen uns während unserer Öffnungszeiten von 7 bis 20 Uhr rund 300 Menschen."
Integrationsarbeit, das ist für den Sozialpädagogen Teilhabe zu ermöglichen. "Wir vermitteln die Menschen passgenau an Stellen, die sie noch gezielter und individueller unterstützen". Wie etwa das Projekt "Mutter 2.0", das Sozialarbeiterin Julia Knipscheer ein Jahr lang geleitet hat.
Polit-Talk im Livestream
Unter der Überschrift "Heimat ohne Grenzen denken – Perspektiven einer gelingenden Integrations- und Geflüchtetenpolitik in NRW" lädt die Freie Wohlfahrtspflege NRW zum "Praxis trifft Politik"-Talk ein. Die hybride Diskussion mit Landespolitikerinnen und -politikern sowie Expertinnen und Experten der Integrations- und Geflüchtetenarbeit findet am 29. März 2022 von 17 bis 19 Uhr im Agora Kultur- und Bildungszentrum Castrop-Rauxel statt und wird live bei YouTube gestreamt. Unter anderem dabei sind: Heike Wermer (CDU), Lisa-Kristin Kapteinat (SPD), Christian Mangen (FDP), Aymaz Berivan (Bündnis 90/Die Grünen) und Fotis Matentzoglou (Die Linke).
Traumberuf Schneiderin: Teilnehmerin Rafaa Mahmoud (rechts) möchte ihre Deutschkenntnisse verbessern, bevor sie sich auf dem Arbeitsmarkt beweist.
Immer weiter lernen
Die Integrationsagentur hat für das Projekt ein Konzept erstellt, einen Kooperationspartner gesucht und den ehrenamtlichen Vorstand unterstützt. Über jeweils sechs Monate hat die Projektleiterin zwei Gruppen begleitet. Die Hälfte der Teilnehmerinnen spricht Arabisch oder Kurdisch, andere kommen aus Ländern wie Guinea, Eritrea oder Sri Lanka.
"Die Gruppen sind immer bunt gemischt", fasst sie zusammen. Ein Ziel haben alle Mütter erreicht: Sie alle konnten ihr Deutsch deutlich verbessern. So geht es auch Rafaa Mahmoud. Ganz zufrieden ist sie aber noch nicht, obwohl sie neben Kurdisch auch fließend Arabisch und Französisch spricht – und in ihrem Heimatland als Journalistin gearbeitet hat. Zielstrebig verfolgt sie ihr Ziel, lernt zwei Stunden täglich Deutsch mit YouTube-Videos. "Egal ob man alt oder jung ist: Man muss immer weiter lernen", betont die Mutter von fünf Kindern. Um sich weiter zu verbessern, sucht Rafaa Mahmoud Kontakt zu anderen Menschen, mit denen sie Deutsch sprechen kann.
Den Müttern Mut machen
Das Projekt stärkt nicht nur die Sprachkenntnisse der Frauen. Auch bei den Themen Wohnen, Beruf, Kinderbetreuung und Behördengänge werden sie gestärkt. Gemeinsam erarbeiten sie Lösungen für ganz praktische Fragen: Wie finde ich Arbeit? Wie kann ich Menschen kennenlernen? Wie finde ich heraus, von wo die Busse fahren – und wohin?
Projektleiterin Julia Knipscheer ist es wichtig, den Frauen Mut zu machen. "Die Mütter sind oft die, die untergehen", kritisiert sie. "Wir wollen sie rausholen, damit sie sich selbst etwas zutrauen – für sich und für ihre Kinder." In Rollenspielen üben sie Alltagssituationen, wie Gespräche mit der Kita, Schule, Ärzten oder Behörden. Auch theaterpädagogisch arbeiten sie am Selbstvertrauen. Sie machen Übungen, bei denen sie sich strecken und Raum einnehmen sollen. So sprechen sie lauter, deutlicher, verwenden dabei den ganzen Körper.
"Ich kann euch nicht hören", ruft Theaterpädagogin Erika Römer zwei Teilnehmerinnen zu. Sie zeigt den Frauen in Übungen, wie sie selbstbewusst auftreten und sich auch so fühlen können.
'Ich kann, ich möchte und ich will.'
"Bei allen Frauen ist das Selbstbewusstsein gewachsen", betont die Sozialarbeiterin. "Am Ende hat mir eine Teilnehmerin gesagt: 'Ich kann, ich möchte und ich will.' Das fasst es super zusammen." Auch Rafaa Mahmoud hat ebenfalls neuen Mut gefasst: Alleine zum Arzt zu gehen, ist schon lange kein Problem mehr. Ihren Mann begleitet sie jetzt bei seinen Terminen, denn ihr Deutsch ist mittlerweile besser als seins.
Zum Erfolg von "Mutter 2.0" trägt die kleine Gruppengröße bei. Das stärkt das Vertrauen. "Es müsste mehr Maßnahmen in kleinen Gruppen geben, damit die Beziehungen enger sind", fordert Julia Knipscheer. "Es sind viele Freundschaften entstanden, sodass die Frauen sich auch nach dem Ende des Projekts gegenseitig unterstützen können."
Zum Abschied nähte eine Mutter für eine andere Teilnehmerin eine Schürze, auch nach Ende des Projekts tauschen sie regelmäßig Rezepte aus. Einige der Frauen treffen sich auch privat. "Bei der Abschiedsfeier sind Tränen geflossen", berichtet die Sozialarbeiterin, selbst ganz gerührt mit Tränen in den Augen. "Es war einfach eine verdammt herzliche Gruppe."
"Es wäre wichtig, jetzt weiterzumachen"
Umso trauriger, dass das Projekt Mitte Februar − nach genau einem Jahr − ausgelaufen ist. Das Jobcenter des Kreises Recklinghausen fördert "Mutter 2.0" nicht weiter. "Maßnahmen, die die Frauen ganz ohne Druck fördern und stärken, fehlen jetzt", kritisiert Knipscheer. "Die Frauen kommen freiwillig, sie wollen lernen."
Das zeigt sich ganz deutlich in der Auswertung des Projekts: Integrationsagentur-Chef Thorsten Schnelle verweist auf eine Zufriedenheit bei den Teilnehmerinnen von 90 Prozent. "Es wäre wichtig, jetzt weiterzumachen", unterstreicht der Einrichtungsleiter. "Die Frauen kennen uns, sie vertrauen uns." Auch in der Community ist das Projekt mittlerweile bekannt und die Kontakte zu den Betrieben sind aufgebaut. "Es ist schade, dass "Mutter 2.0" ausläuft, obwohl es jetzt erst so richtig losgehen könnte", bemängelt er.
Es braucht mehr Austausch zwischen den einzelnen Akteuren, fordert Jens Rautenberg, Leitung des Geschäftsfelds "Flucht, Migration und Integration". Erfolgreiche Projekte könnten nur gelingen, wenn Ressourcen optimal genutzt werden.
Mehr Vernetzung zwischen allen Akteuren
Netzwerke aus der Freien Wohlfahrtspflege und Zivilgesellschaft müssen stärker genutzt werden, sagt auch der Leiter des Geschäftsfelds "Flucht, Migration und Integration" der Diakonie RWL, Jens Rautenberg. . Er kritisiert: "Oft fehlt der Austausch zwischen den Kommunen und der Freien Wohlfahrt". Vor allem die Kommunen seien in der Pflicht: "Sie sollten den Austausch zwischen den Akteuren steuern." Dann können gute Projekte fortgeführt und die Ressourcen optimal genutzt werden.
Wie das genau klappen kann, möchten die Diakonie RWL und die Freie Wohlfahrtspflege NRW vor der Landtagswahl beleuchten. Deshalb treffen sich Politiker und Experten der Integrationsarbeit im Kulturzentrum "Agora", um Bilanz zu ziehen, Verbesserungen vorzuschlagen und konstruktiv zu diskutieren.
Text: Jana Hofmann, Fotos: Jana Hofmann/Diakonie RWL.
Flucht Migration Integration
Die Agora – ein Kulturzentrum für alle
Das Kultur- und Begegnungszentrum "Agora" erreicht täglich von 7 bis 20 Uhr rund 300 Menschen. Das Zentrum wurde vor 30 Jahren von der Griechischen Gemeinde Castrop-Rauxel gegründet, die auch Mitglied bei der Diakonie RWL ist. Auf dem 900.000 Quadratmeter großen ehemaligen Zechengelände arbeiten 37 Mitarbeitende und 70 Ehrenamtliche. Zum Programm gehören Integrations-, Sprach- und Kochkurse, Veranstaltungen wie Seniorenfrühstück, Hausaufgabenbetreuung und ein Internetcafé. In der "Agora" – aus dem Griechischen für "Marktplatz" – mit Amphitheater und Spielplatz geht es auch sportlich zu mit Yoga, Pilates und griechischen Tänzen.