Flüchtlingsberatung
Seit der Machtübernahme der Taliban im August kennt Saskia Trittmann, Flüchtlingsreferentin des Evangelischen Kirchenkreises An der Ruhr, nur ein Thema: Afghanistan. Täglich berät sie mit ihrem Team Menschen, die Angehörige in dem Land haben, die um das Leben von Eltern, Brüdern, Tanten oder Freunden fürchten und fragen: "Was kann ich tun?"
Es sind Menschen wie Zarmina. Die 49-jährige Mutter war Vorsitzende der Frauenliga von Masar-e Sharif, jetzt wird sie von den Taliban gesucht. Über eine Nachbarin ließen ihr die radikalen Islamisten ausrichten, dass ihr eine öffentliche Auspeitschung drohe. Mehrfach hat die Frauenrechtlerin mit ihrer Familie seitdem den Aufenthaltsort gewechselt, ist untergetaucht.
Ihre Schwester in Deutschland wandte sich hilfesuchend an die Flüchtlingsberatung in Mülheim, wo Saskia Trittmann mittlerweile viele solcher Schicksale kennt. "Das sind Menschen, die nicht unter die enge Definition der Ortskräfte fallen, für die sich Deutschland derzeit nicht verantwortlich fühlt, von denen wir aber wissen, dass sie unter dem Taliban-Regime existenziell gefährdet sind."
Flüchtlingsberaterin Saskia Trittmann führt viele schwierige Telefonate mit Menschen, die Angehörige aus Afghanistan herausholen wollen.
Beweise für Bedrohung sammeln
Dazu zählen etwa Kulturschaffende, Journalisten, Menschen, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, Mitarbeitende ausländischer Organisationen. "Und die Dramatik nimmt weiter zu", sagt Saskia Trittmann. Gerade hat sie mit einer Frau telefoniert, die ihr berichtete, dass ihre Brüder ermordet worden seien, nachdem es bei dem ersten Gespräch mit der Frau noch um Fluchtoptionen für die Männer ging.
In manchen Fällen könne sie nur Tipps geben, etwa wie Menschen über die Grenze kommen können, erzählt die Beraterin. In anderen Fällen, wie bei Zarmina, lässt sich die Gefährdung gut darlegen. Gemeinsam mit der Schwester hat Saskia Trittmann Videotelefonate mit Zarmina geführt und Dokumente gesichert, etwa Bilder, Videos und Nachweise, die zeigen, wie sie vor Männern in der Moschee spricht oder dass sie sich für Frauenprojekte engagiert hat.
Sind alle Dokumente dabei? Für eine "Gefährdungsanzeige" braucht es viele Unterlagen, die die Flüchtlingsberater*innen zusammenstellen und wegschicken.
Gefährdungsanzeigen stellen
Diese Unterlagen schickt Saskia Trittmann dann gebündelt als Gefährdungsanzeige an das Auswärtige Amt – in der Hoffnung, dass der Name auf eine Evakuierungsliste gesetzt wird, es eine schriftliche Aufnahmezusage von Deutschland gibt, um ein Visum zu beantragen und erst einmal über die Grenze in ein Nachbarland zu fliehen – und von dort aus weiter nach Europa.
Doch bislang bewege sich einfach zu wenig. "Wenn kein politischer Wille da ist, kommen wir mit unserem Engagement alleine nicht weiter." Dass Bund und Länder schnell handeln, darauf dringt auch die Diakonie RWL gemeinsam mit den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege in NRW. "Wir brauchen jetzt Aufnahmezusagen für die Ortskräfte und andere von der Taliban besonders gefährdete Personen, ohne bürokratische Auflagen", appelliert Diakonie Flüchtlingsexperte Dietrich Eckeberg. "Um die Menschen aus akuter Gefahr zu retten, ist es wichtig, dass sie vorab schon ausdruckbare Einreise-Aufnahmezusagen erhalten, mit denen sie in die Anrainerstaaten ausreisen und von dort nach Deutschland einreisen können. Die Formalien sollten danach geregelt werden."
Flüchtlingsexpertin Barbara Geisler-Hadler fordert einen sicheren Aufenthalt für Afghanen, die in Deutschland leben.
Bleibeperspektive für geduldete Afghanen
Barbara Geisler-Hadler, Vorsitzende des Fachverbands "Migration und Flucht" der Diakonie RWL, fordert zusätzlich ein Landesaufnahmeprogramm. "Hier muss jetzt unbürokratisch und schnell gehandelt werden", betont sie. Zudem sollte auch den rund 4.500 Afghaninnen und Afghanen in NRW geholfen werden, die hier nur eine Duldung haben. "Es wäre schon viel gewonnen, wenn diese Menschen einen sicheren Aufenthaltsstatus hätten, Sprachkurse besuchen und sich in die Gesellschaft integrieren könnten", sagt sie.
Wie verzweifelt und innerlich zerrissen manche Flüchtlinge hierzulande sind, erlebt Barbara Geisler-Hadler auch als Geschäftsführerin des Diakonischen Werks im Kirchenkreis Herford. "Die Menschen sind innerlich zerrissen. Sie selbst sind in Deutschland in Sicherheit, aber solange sie ihre Angehörigen in Gefahr wissen, kommen sie einfach nicht zur Ruhe", erzählt die Sozialarbeiterin. Manche überlegten sogar, nach Afghanistan zurückzukehren und zu versuchen, Angehörige aus dem Land zu holen. "Erst gerade hatten wir einen Mann hier, den wir mit Mühe und Not davon abbringen konnten. Denn was hilft es, wenn er sich selbst auch noch in Gefahr bringt?"
Raus aus Afghanistan - schnell und unbürokratisch. Dafür setzt sich die Diakonie RWL ein.
Wunsch nach humanitärer Geste
Auch für die Mitarbeitenden sei das extrem belastend, ergänzt Saskia Trittmann. "Wir sind ja nicht wirkungslos. Wir holen Informationen ran, telefonieren mit Ministerien, versuchen ständig, Lösungen für Menschen zu finden, die nicht im engeren Sinne Ortskräfte sind. Aber solange keine neue Bundesregierung steht, erwarte ich keine Entscheidungen", sagt die Flüchtlingsberaterin.
Dabei gebe es Möglichkeiten. Die Zahl der Flüchtlinge, die Deutschland pro Jahr aufzunehmen bereit ist, sei längst noch nicht ausgeschöpft. "Deutschland könnte in einer großzügigen humanitären Geste Tausende Schutzbedürftige aufnehmen", sagt Trittmann und hofft, dass dieses Anliegen in den Koalitionsverhandlungen mit nach oben auf die Tagesordnung kommt – "damit Menschen wie Zarmina am Leben bleiben und sich weiterhin für die Rechte von Frauen und den Aufbau einer zivilen und demokratischen Gesellschaft in Afghanistan engagieren können."
Text: Silke Tornede, Fotos: Kathrin Rothhaas/ Ev. Kirchenkreises An der Ruhr, pixabay
Flüchtlingsberatung der Diakonie in Herford
Diakonie RWL fordert Abschiebestopp für Afghanistan
Flucht Migration Integration
In einem gemeinsamen flüchtlingspolitischen Wort zur Lage in Afghanistan appellieren die leitenden Geistlichen der drei nordrhein-westfälischen Landeskirchen an die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern, "Afghanistan und seine Bewohnerinnen und Bewohner nicht zu vergessen und die Zusagen, die der Westen gemacht hat, einzulösen". In ihrem Appell lenken sie zugleich den Blick auf die Menschen afghanischer Herkunft, die zum Teil seit vielen Jahren in Deutschland leben und verzweifelt für ihre Verwandten im Herkunftsland nach einem Ausweg suchen.