Lust auf soziale Berufe
Meine Arbeit in der Mädchenwohngruppe ist ein bisschen wie eine Wundertüte: Ich weiß vorher nie, was der Tag bringen wird. An manchen Tagen stehen eher alltagspraktische Themen im Vordergrund, an anderen liegt der Schwerpunkt auf der gemeinsamen Freizeitgestaltung oder dem Führen von intensiven Gesprächen.
Seit vier Jahren bin ich bei der Diakonie Saar angestellt und betreue in der Wohngruppe gemeinsam mit vier Kolleginnen und einer Erzieherin im Anerkennungsjahr neun Mädchen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Es gibt noch einen zehnten Platz, der für kurzfristige Inobhutnahmen freigehalten wird. Zwischen den Mädchen, die alle eine schwierige Kindheit hinter sich haben, kommt es immer mal wieder zu Konflikten, bei deren Lösung sie meine Hilfe brauchen.
Wechselunterricht in der Pandemie: Die Mädchen waren viele Wochen lang auch vormittags in ihrer Wohngruppe.
Unterstützung beim Online-Unterricht
In der Corona-Pandemie haben wir unsere Arbeitszeiten ändern müssen, da die Mädchen nicht durchgängig vormittags in der Schule sind, sondern stattdessen häufig Online-Unterricht haben. Wir sind daher rund um die Uhr vor Ort. So beginnt meine Arbeit derzeit um 13 Uhr und endet am nächsten Tag um 13.30 Uhr. Zwischen 22 Uhr und 6 Uhr habe ich Nachtbereitschaft und schlafe vor Ort in unserem Bereitschaftszimmer.
Bei meiner täglichen Arbeit in der Wohngruppe gehe ich stets nach dem Motto vor: "So viel Unterstützung wie nötig, so wenig wie möglich." Meine Aufgabe ist es, die Mädchen und jungen Frauen in ihrem Alltag zu begleiten und sie anzuleiten – dennoch möchte ich ihnen nicht meine Lebensvorstellung aufdrängen. Sie sollen dazu befähigt werden, ihre eigenen Ziele zu entwickeln und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dazu führen wir viele Gespräche, geben aber auch praktische Anleitung.
Esszimmer der Mädchenwohngruppe
Gemeinsames Mittagessen
So steht in der Wohngruppe zwar an den Werktagen ein von unserer Hauswirtschaftskraft frisch gekochtes Mittagessen auf dem Tisch, an den Wochenenden aber kochen wir gemeinsam. Die Mädchen suchen aus, was es gibt – dadurch stehen öfter mal Nudeln oder Pizza auf dem Speiseplan. Aber wir haben zum Beispiel auch eine junge Frau aus Syrien in der Gruppe, die gerne Gerichte aus ihrer Heimat kocht. Ein anderes Mädchen backt gerne Kuchen – darüber freuen sich dann alle.
Vertrauen zu anderen Menschen entwickeln, feste Beziehungen aufbauen – das haben viele unserer Bewohnerinnen in ihren Familien zuvor nicht gelernt. Deshalb sind uns auch die gemeinsamen Mahlzeiten sehr wichtig. Wer keinen Hunger hat, muss nicht unbedingt mitessen, sollte aber trotzdem wegen der Gemeinsamkeit mit am Tisch sitzen.
Schichtwechsel: Das Übergabegespräch am Mittag gehört zum Job.
Übergabegespräche am Mittag
In der halben Stunde am Mittag, in der wir zu zwei Erzieherinnen in der Gruppe sind, machen wir ein Übergabegespräch. Wir reden dabei kurz über jedes Mädchen und besprechen, was anliegt und ob es irgendwelche Probleme gibt. Alles wird schriftlich im PC dokumentiert, so dass man jederzeit den Überblick hat, auch über wichtige Termine der Bewohnerinnen wie Arztbesuche oder Behördengänge.
Zu vielen Terminen fahren wir gemeinsam oder üben den Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln zuvor zusammen ein. Auch Elternabende in der Schule oder Gespräche mit Lehrern, Eltern, anderen Beratungsstellen oder dem Jugendamt werden von uns begleitet. Nachdem sie ihre Schulaufgaben gemacht haben, müssen die Mädchen bestimmte Aufgaben erledigen – etwa das Bad putzen, den Müll rausbringen oder den Rasen in dem großen Garten mähen, der zum Haus gehört.
Wie baue ich ein Regal auf? Auch das lernen die Mädchen in der Wohngruppe.
Selbstständigkeit lernen
Unserem Team ist es wichtig, den Jugendlichen praktische Fertigkeiten für den Alltag zu vermitteln. So bauen wir zusammen Möbel auf oder geben Hilfestellung beim Waschen der Wäsche. Für diejenigen Bewohnerinnen, die bald ausziehen werden, um ein weitgehend eigenständiges Leben zu führen, haben wir darüber hinaus eine Verselbständigungsküche: Die Mädchen, die sie benutzen, kaufen ihre Lebensmittel ein und versorgen sich selbst. Dabei unterstütze ich sie natürlich zunächst, etwa beim Umgang mit dem Geld.
Im Moment haben wir eine sehr harmonische Gruppe, aber das ist nicht immer so, denn die Bewohnerinnen wechseln. Einige bleiben mehrere Jahre, andere nur kurz. Zur Stärkung des Zusammenhaltes der Mädchen mache ich gemeinsam mit einer Kollegin immer mal wieder verschiedene Angebote. So gehen wir beispielsweise mit der Gruppe in den Wald und machen Kooperationsspiele, um das Gruppengefüge zu stärken.
Alle Mädchen haben in der Wohngruppe ihr eigenes Zimmer.
Privatsphäre erlaubt
Abends nutzen wir unsere Gemeinschaftsräume, um einen Film zu sehen, zu spielen oder einfach nur zu reden. Die Mädchen können sich aber auch auf ihre Zimmer zurückziehen. Unser Haus ist sehr geräumig. Im Erdgeschoss sind die Gemeinschaftsräume und unser Büro, in den beiden Obergeschossen liegen die Einzelzimmer der Mädchen und jeweils ein Bad pro Etage. Jede Bewohnerin darf ihr Zimmer abschließen, aber wir haben auch einen Generalschlüssel für den Notfall. Denn manche Mädchen verletzen sich selbst oder äußern Selbstmord-Gedanken. Das ist auch für mich oft belastend, aber ich mache meine Arbeit trotzdem sehr gern.
Wenn ich nach meinem Dienst nach Hause fahre, gehe ich erstmal mit meinen beiden Hunden im Wald spazieren, um zu entspannen. Es sind Therapiehunde, die ich manchmal in die Wohngruppe mitnehme. Dann setze ich mich oft noch an meinen Schreibtisch, denn ich studiere online soziale Arbeit. Studieren, die praktische Arbeit mit den Jugendlichen, der intensive Kontakt zu den Tieren – das ist genau das, was ich machen möchte.
Protokoll: Christine Sommerfeld, Redaktion: Sabine Damaschke, Fotos: Stefanie Stein
Wohngruppen der Diakonie Saar
Diakonie RWL-Reportage über stationäre Jugendhilfe in der Pandemie
Hilfen zur Erziehung
In Deutschland leben etwa 1,7 Millionen Menschen mit sogenannter "Heimerfahrung". Mehr als 100.000 Kinder und Jugendliche befinden sich derzeit in Heimen und Wohngruppen der stationären Jugendhilfe. In NRW sind es knapp 25.000. Die Diakonie RWL vertritt als größter Träger der Kinder- und Jugendhilfe in NRW knapp 150 Einrichtungen mit rund 10.000 Plätzen. Im Saarland wohnen rund 150 Kinder in den stationären und teilstationären Angeboten der Diakonie.