27. Mai 2020

Heimerziehung in der Pandemie

Jugendhilfe kennt kein Homeoffice

Keine Schule, keine Treffen mit Familie und Freunden, kein Sporttraining – die Corona-Krise hat Heime und Wohngruppen der stationären Jugendhilfe auf eine harte Probe gestellt. Das zeigen die Erfahrungen der Diakonie Saar. Die Lockerungen erleichtern nun wieder den Alltag. Doch sie machen auch deutlich, dass mehr Personal gebraucht wird.

  • Symbolbild Junge mit Maske und Corona-Viren

"Wenn Kinder oder Jugendliche, aus welchen Gründen auch immer, nicht zuhause wohnen können, dann sind wir für sie da – auch in Zeiten von Corona", betont Stefanie Grönitz. Die Diplom-Pädagogin ist für drei Wohngruppen der Diakonie Saar zuständig. Insgesamt leben rund 150 Kinder und Jugendliche in den stationären und teilstationären Angeboten der Diakonie.

Viele Kinder und Jugendliche haben Gewalt in ihren Familien erlebt, Missbrauch und sexuelle Übergriffe sowie Verwahrlosung. Die Wohngruppen und Wohngemeinschaften sind für die Kinder und Jugendlichen oft ein "sicherer Ort", an dem sie ihre Erlebnisse und Probleme aussprechen und verarbeiten könnten. Nähe statt Distanz sei wichtig, gerade in verunsichernden Zeiten wie der Corona-Pandemie, betont Grönitz.

Portrait

Nähe und Umarmungen sind in der Jugendhilfe wichtig, meint Stefanie Grönitz. Auch in der Corona-Pandemie. (Foto: Diakonie Saar)

Ein völlig anderer Alltag

Deshalb kam es für die Erzieherinnen und Erzieher auch nicht infrage, Atem-Schutzmasken zu tragen. Zur pädagogischen Kommunikation gehört die Mimik – und je nach Situation auch mal eine Umarmung. Die war vor allem zu Beginn der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im März gefragt, als die Kinder und Jugendlichen Familie und Freunde nicht mehr sehen durften.

Die oftmals mühsam aufgebauten Kontakte zu Eltern und Geschwistern drohten abzubrechen, da persönliche Treffen nicht mehr möglich waren. Und Treffen mit den Freunden, die für sie einen sehr wichtigen Stellenwert hätten, seien nicht mehr möglich gewesen, erzählt Grönitz. "Da entstand schon teilweise großer Unmut, weil wir das Leben der Jugendlichen so stark einschränken mussten. Und die Jugendlichen nur im Haus zu beschäftigen, hat die Mitarbeitenden mehr gefordert als in normalen Zeiten."

FSJler  Leonard Lieser arbeitet bei der Diakonie Saar und unterstützt die Jugendlichen bei den Hausaufgaben.

FSJler Leonard Lieser unterstützt die Jugendlichen bei den Hausaufgaben. (Foto: Stefanie Stein)

Herausforderung Lernen 

Dazu fehlt der Schulbesuch – für viele Kinder und Jugendlichen auch jetzt im Mai noch. Dabei ist er eine wichtige Struktur im Alltag. Das selbstständige Lernen zuhause ist eine Herausforderung. "Normalerweise haben wir vormittags nur wenig Personal eingesetzt, weil ja alle in der Schule sind", berichtet Grönitz. "Von jetzt auf gleich mussten wir für die Wohngruppen, die mit durchschnittlich neun Plätzen belegt sind, zusätzlich Personal organisieren."

Glücklicherweise meldeten sich Mitarbeitenden aus anderen Diakonieeinrichtungen, die aufgrund des Lockdowns ihre Arbeit nicht durchführen konnten. "Da bin ich sehr glücklich, dass wir auch abteilungsübergreifend zusammengehalten haben", betont die Erzieherin. Und so spendeten auch viele Kolleginnen und Kollegen DVDs, Laptops und Spiele, um den Jugendlichen die Zeit in den Wohngruppen erträglicher zu machen.

Bild: Tanja Buck

Setzt sich für mehr Personal in der stationären Jugendhilfe ein: Diakonie RWL-Referentin Tanja Buck  (Foto: Diakonie RWL)

Engagiert und solidarisch

"Alle diakonischen Einrichtungen der Jugendhilfe haben sehr engagiert und solidarisch zusammengearbeitet, um den Alltag der Kinder und Jugendlichen sinnvoll zu gestalten", beobachtet Diakonie RWL-Referentin Tanja Buck. Sie ist für die stationäre Jugendhilfe beim Landesverband zuständig. Allein in NRW vertritt die Diakonie RWL rund 140 Einrichtungen mit etwa 10.000 Plätzen.

Um die Kinder und Jugendlichen gut beim Lernen für die Schule unterstützen und genügend Freizeitangebote machen zu können, war überall mehr Personal nötig. Größere Träger wie die Diakonie Saar konnten Mitarbeitende aus anderen pädagogischen Bereichen einsetzen. Bei kleineren Trägern machten die Erzieherinnen und Erzieher Überstunden.

Nun öffnen Kitas und Schulen wieder und das Personal wird dort gebraucht. "Aber es sind ja nicht alle Kinder und Jugendlichen wie vor der Krise gleichzeitig dort", sagt Buck. "Wir benötigen nach wie vor mehr Mitarbeitende in den Wohngruppen, die sie betreuen und beschäftigen. Als Landesverband kämpfen wir dafür, dass das in der Corona-Krise auch finanziert wird."

Kind mit Atemschutzmaske und Desinfektionsmittel

Mit Kindern in Quarantäne eine Herausforderung für die Jugendhilfe. (Foto: pixabay)

Covid-19-Fall in Wohngruppe

Selbstorganisation war bisher auch in anderer Hinsicht gefragt. "Anders als für Kitas, Schulen oder Pflegeheime hat es für den Bereich der Erziehungshilfen keine klaren Erlasse zu Hygiene- und Quarantänemaßnahmen gegeben", sagt Buck. "Die Einrichtungen wurden wie normale Familienhaushalte behandelt."

Das musste auch eine Wohngruppe der Diakonie Saar Anfang April erfahren. Ein Mädchen hatte sich mit dem Corona-Virus infiziert und war erkrankt. Die Betreuenden seien daraufhin mit allen Kindern und Jugendlichen in Quarantäne gegangen, erzählt Grönitz. Niemand durfte die Wohngruppe verlassen, die Erzieherinnen und Erzieher organisierten Schutzmaterialien, FFP2-Masken und Hygienematerial.

Die Anstrengungen und die Disziplin aller Beteiligten hätten sich am Ende gelohnt. Niemand sonst sei erkrankt, betont die Pädagogin. "Ich bin stolz auf die Jugendlichen und auf meine Mitarbeitenden, wie toll sie diese Zeit gemeistert haben und aktuell noch meistern." Doch sie fügt auch hinzu: "Wir sind für die Kinder und Jugendlichen, die nicht bei ihrer Familien leben können, die letzte Instanz und aus meiner Sicht daher systemrelevant. Da würde ich mir mehr Wertschätzung von Seiten der Politik wünschen."

Text: Stefanie Stein, Redaktion: Sabine Damaschke; Teaserfoto: pixabay.de

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