Themenreihe Familie
In die Jugendberatungsstelle JUBS in Neuss kommen in der Regel Jugendliche ab 14 Jahre. Der Zulauf ist groß, unter Jugendlichen ist die Beratungsstelle bekannt. "Da kannst du hingehen", heißt es etwa, oder: "Die haben mir auch schon geholfen." Michael Williams, der Leiter der Beratungsstelle, sagt: "Oft bringen junge Menschen auch direkt ihre Freundinnen und Freunde mit, die sich in ähnlich herausfordernden Situationen befinden wie sie selbst." Neben der Mund- zu Mundpropaganda ist die Beratungsstelle gut vernetzt. So gibt es Anfragen für Schulprojekte wie "Der Sinn des Lebens" oder auch zu anderen Themen. "Wichtig ist in erster Linie, dass die Jugendlichen uns kennenlernen, erleben, dass man mit uns reden kann und unsere Kontaktdaten haben."
Im Arbeitskreis Netzwerk Schule arbeitet die Beratungsstelle eng mit der Schulsozialarbeit, Lehrkräften und auch der Polizei an aktuellen inhaltlichen Themen zusammen. In den Schulen bietet Michael Williams mit seinem Team Fortbildungen für Lehrkräfte zu pädagogischen Themen an. "Dadurch ist der Weg zu uns kurz", so Williams. Erfahre zum Beispiel die Schulsozialarbeit von Gewalt in der Familie eines Jugendlichen, dann sei es für den Jugendlichen zunächst einfacher, ohne die Eltern zur Beratung zu kommen. Das sei ein erster Kontaktversuch, bevor bei Bedarf das Jugendamt eingeschaltet werden müsse, sagt Williams.
Ein Gefühl, das auch nach der Corona-Pandemie geblieben ist: Viele Jugendliche sind einsam.
Isolation auf lange Zeit
"Jugendliche sind schon aufgrund der komplexen Entwicklungsaufgaben mit Fragen nach der eigenen Identität, dem Loslösungsprozess von der Familie, Entwicklung einer geschlechtlichen Identität und Rollenfindung und vielem mehr eine vulnerable Gruppe", so der JUBS-Leiter. "Corona hat dazu geführt, dass alle Formen psychischer Störungen vermehrt bei Jugendlichen auftreten. Aber am meisten stellen wir in der Beratungsstelle soziale Ängstlichkeit fest. Es gab in der Corona-Zeit keine Angebote, sich im sozialen Umgang auszuprobieren. Der Unterricht lief digital. Sportangebote in den Vereinen, Jugendzentren, private Treffen – über weite Strecken war das alles nicht mehr möglich. Und das im Empfinden von Jugendlichen über einen gefühlt unendlich langen Zeitraum."
Die Geschichte von Lea: Von 120 auf null Prozent – die Essstörung bleibt
aufgeschrieben von Regina Wittler, Leiterin der Evangelischen Beratungsstelle für Erziehungs-, Paar- und Lebensfragen im Evangelischen Kirchenkreis Dortmund
Lea erzählt: "Am Anfang von Corona bin ich von 120 auf null Prozent gefahren. Da war kein Stress mehr. Erst mal war das gut. Doch dann musste ich mich mit mir selbst beschäftigen. Ich habe angefangen, vor dem Spiegel zu stehen und fand immer was zu meckern. Ich hatte einfach Zeit darüber nachzudenken. Als das mit Corona dann vorbei war, war das Essen erst einmal weniger Thema. Jetzt kommt das aber wieder, die Ablenkung hilft mir nicht mehr. Der ganze andere Stress ist aber trotzdem wieder voll da."
Leeres Klassenzimmer: Zu Beginn der Pandemie haben sich Schülerinnen und Schüler nur digital gesehen.
Brav sein als Gesundheitsrisiko
Dass sich Kontaktbeschränkungen bei Jugendlichen erheblich auf deren psychische Gesundheit auswirken können, fasst Thomas Dobbek, Leiter der Bonner Beratungsstelle, so zusammen: "Provokativ kann man sagen: Brav sein ist ein Gesundheitsrisiko. Von denen, die brav zu Hause geblieben sind und sich an die Kontaktbeschränkungen gehalten haben, sind nun viele bei uns in der Beratungsstelle."
Auch in die "ganz normale Familienberatungsstelle" in Bonn kommen viele Jugendliche und Heranwachsende. "Wir stellen fest, dass gerade Heranwachsende Probleme in der Verselbstständigung haben", so Dobbek. Oft seien es Studierende, die weit weg von zu Hause keinen Fuß auf den Boden bekommen. Die im Studium nicht zurechtkommen und vereinsamen, weil sie keine sozialen Kontakte haben. "Das sind oftmals alte Probleme, die dann akut werden", sagt Thomas Dobbek. "Oder es sind die Eltern, die bei uns in die Beratung kommen. Weil sie nicht wissen, wie sie mit ihrem Kind umgehen sollen, wenn es nach Schulschluss nicht mehr aus dem Zimmer kommt. Die Eltern sind oftmals verunsichert, ob das Verhalten normal sei und was sie tun sollen."
Wer bin ich und bin ich eigentlich "richtig" so? Jugendliche haben oft das Bedürfnis, einem Ideal zu entsprechen, sagt Berater Williams.
Druck zur Selbstoptimierung
Michael Williams aus Neuss stellt einen zunehmenden Druck zur Selbstoptimierung fest. "Jugendliche kommen oft verunsichert mit der Frage 'bin ich richtig' und 'mache ich alles richtig'", so Williams. "Dabei gibt es das große Bedürfnis, einem Ideal zu entsprechen, ohne genau zu wissen, was das Ideal genau ist. Beim Thema Berufswahl herrscht dann oft der Druck, die 'richtige Wahl' zu treffen. Das ist bei den vielen Optionen, die es heutzutage gibt, schier unmöglich. In der Beratung geht es dann oftmals darum, dass Jugendliche mehr ein Gefühl dafür bekommen, was sie können und was ihnen Spaß macht."
Die Geschichte von Melly: Du kannst es nie allen recht machen – und brauchst es auch gar nicht!
aufgeschrieben von Rendel Simon, Leiterin der Psychologischen Beratungsstelle des Diakonisches Werkes Lüdenscheid-Plettenberg
1) Der Hintergrund
Der Kinderarzt empfiehlt einem Elternpaar, wegen der extremen Nackenverspannungen und Schlafstörungen ihrer Tochter beraterisch-therapeutische Hilfe aufzusuchen. Die Mutter besucht die Beratungsstelle Lessingstraße des Diakonischen Werkes in Lüdenscheid. Sie beschreibt ihre Tochter als Kind, das schon immer alles besonders gut machen wollte. Obwohl schon sehr gut in der Schule, setze Melly sich dennoch selbst großem Druck aus – sie ist kein Kind, das man zum Lernen zwingen muss. Seit einiger Zeit kommt ihr die Kritik einiger Lästermäuler in der Klasse zu Ohren: Sie sei zu groß, die Nase zu dick… Sie fühlt sich ausgeschlossen, zieht sich zurück, wirkt häufig niedergeschlagen, fast depressiv. Und längst nicht mehr so selbstbewusst wie früher.2) Die Beratung
Als Melly in die Sprechstunde kommt, sitzt mir ein hübsches junges Mädchen gegenüber, klug und sehr verständig. Ihre Einstellungen, ihr Sozialverhalten sind vorbildlich – sie möchte in jedem Fall vermeiden, andere zu demütigen oder zu verletzen. Aber sie fühlt sich in ihrer Klasse ausgegrenzt. Sie sagt: "Ich glaube, die haben keine Lust, mit mir zusammen zu sein."
Es gibt einen Fachbegriff für dieses Gefühl: Belonging uncertainty, "Zugehörigkeitsunsicherheit". Zugehörigkeit ist das starke emotionale Bedürfnis, ein akzeptiertes Mitglied einer Gruppe zu sein. Sozialpsychologen benennen dies als eines der fünf zentralen Bedürfnisse und damit eine Hauptquelle menschlicher Motivation.
Das Bemühen, akzeptiert und gemocht zu werden und zu einer Gruppe dazuzugehören, kann hochanstrengend sein, der Mechanismus erzeugt nicht selten einen Teufelskreis. Anfängliche Misserfolge können Gefühle fehlender Zugehörigkeit verstärken, Schwierigkeiten bezieht man auf sich selbst. Dadurch verstärken sich Selbstzweifel, das Selbstbewusstsein nimmt ab, der Aufbau sozialer Kontakte wird zusätzlich erschwert.
In unseren Treffen sprechen wir zunächst über Perfektionismus. Auf einer Skala von 1 bis 10 schätzt Melly ihren Hang zum perfekt sein Wollen sehr hoch ein, sieht sich auf der 8 mit dem Wunsch, sich auf der 5 einzupendeln. "Dann wäre ich entspannter, ein bisschen glücklicher und würde weniger Wert auf die Meinung anderer legen." Wenn man dem Perfektionismus eine Stimme verleihen könnte, wäre der nie zufrieden mit ihr: "Was tust du da? Du machst alles falsch! Du bist nicht in Ordnung, reichst nie aus!" Mellys Ziel dagegen ist "Erleichterung und Zufriedenheit", ein Gefühl, das sie eher beruhigen würde: "Mach alles in deinem eigenen Tempo. Du bist liebenswert, so wie du bist."3) Die nächsten Schritte
Wir überlegen, welche Gedanken ihr helfen könnten, um mit den Lästereien der anderen fertig zu werden und sich dadurch nicht klein zu fühlen. Mellys Gedanken schreiben wir auf Zettel. "Du kannst es nie allen recht machen und brauchst es auch gar nicht!", "Verändere dich nicht für andere, denn es ist dein Körper/dein Leben.", "Manche sind nur neidisch.", "Akzeptiere: Es gibt immer Leute, die dich nicht so annehmen, wie du bist.", "Manche haben nichts Besseres zu tun als zu lästern.", "Fühle dich mit dir selbst wohl!" und "Die Lästerer sind noch unreif, müssen sich erst noch entwickeln."4) Der Ausblick
Diese Sätze könnten so oder ähnlich Kapitelüberschriften in einem Ratgeberbuch sein, das auch für viele Erwachsenen hilfreich sein könnte. Und sie stammen von einer 13-Jährigen!
Auf der Skala von 1 bis 10, die anzeigt, wie wichtig ihr die Meinung derer ist, die andere ständig kritisieren, sah Melly sich in der schwierigsten Zeit bei 7 bis 8 (10 = hoch), heute auf einer 4 – ihr mittelfristiges Ziel ist es, auf eine 2 bis 3 zu kommen. Doch schon jetzt gelingt es ihr besser, sich von den Aussagen anderer weniger beeindrucken zu lassen und gelassener zu reagieren.
Junge Erwachsene suchen Unterstützung: In Beratungsgesprächen werden individuelle Wege in die Selbstständigkeit erarbeitet.
SGB VIII verbessert
Dass Entwicklung nicht linear verläuft und von vielen Faktoren abhängig ist, gilt auch für die Übergangszeit ins Erwachsenenleben. Dass junge Menschen auch mit 18 oder 21 Jahren in ihrer Persönlichkeit noch nicht so gereift sind, dass sie ihr Leben selbständig führen können – in Lebensbereichen wie Wohnen, Arbeiten, hinsichtlich ihres Lebensunterhalts aber auch im sozialen Miteinander – ist nicht neu. Neu ist, dass die folgende nötige Unterstützung durch die Jugendhilfe immer stärker berücksichtigt wird. Indem der Bundesgesetzgeber 2021 den Paragrafen 41 im SGB VIII neu geregelt hat, hat er eine neue Perspektive eingenommen: War bisher nachzuweisen, dass die Hilfe der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit dient (was dazu führte, dass diese oft abgelehnt wurde), muss der öffentliche Jugendhilfeträger nun prüfen, ob die Beendigung der Hilfen die Persönlichkeitsentwicklung gefährdet. Zudem wurde eine sogenannte Coming-Back-Option formuliert. Damit wird der oftmals bei jungen Menschen noch nicht ausreichend entwickelten realistischen Selbsteinschätzung Rechnung getragen. Meint ein junger Mensch, der mit 18 Jahren die stationäre Jugendhilfeeinrichtung verlässt, zum Beispiel, dass er "schon selbst klarkommen wird", und stellt dann fest, dass dem nicht so ist, hat er trotz Unterbrechung der Hilfe weiterhin Anspruch auf Unterstützung.
Die Familienberatungsstellen als niedrigschwellige Hilfeform sind oftmals auch für die sogenannten Careleaver, also junge Erwachsene, die Unterstützung durch die Jugendhilfe erhalten haben, eine erste oder auch wiederholte Anlaufstelle, wenn Schwierigkeiten auftreten. Stellen diese fest, dass das Beratungsangebot nicht ausreicht und eine intensivere Unterstützung sinnvoll wäre, ist eine gute inhaltliche Schnittstelle zum Jugendamt gefragt. Die Jugendämter müssen hier vielerorts noch ihre Umsetzungspraxis anpassen. Das ist für die jungen Menschen wünschenswert und würde die Familienberatungsstellen entlasten. Denn diese sind insgesamt durch überlastete angrenzende Hilfesysteme mit Unterstützungsbedarfen konfrontiert, die oftmals über die Beratung hinausgehen.
Text: Deane Heumann, Redaktion: Franz Werfel; Fotos: Canva/Pixabay/Shutterstock
Eine Analyse zur aktuellen Situation der Familien-, Paar- und Lebensberatungsstellen
Familie Frauen Bildung
Studien bekräftigen die Forderungen der Diakonie
Viele Jugendliche und junge Erwachsene in NRW erleben Einsamkeit in ihrem Alltag. Unter den Jugendlichen ab 16 Jahren ist fast jeder fünfte sogar von starker Einsamkeit betroffen. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung verstärkt. Das belegt die Studie "Einsamkeit unter Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen nach der Pandemie" von 2023, die von der NRW-Landesregierung in Auftrag gegeben wurde. Ihrer eigenen Einschätzung zufolge sind demnach insbesondere ältere Jugendliche über 16 Jahren nach der Pandemie stärker von Einsamkeit betroffen als vor der Pandemie.
Diese Selbsteinschätzung wird auf der Bundesebene durch die Ergebnisse des aktuellen "Einsamkeitsbarometers 2024" bestätigt. Demnach blieb die Belastung durch Einsamkeit in der jüngeren Altersgruppe auf einem höheren Niveau als bei älteren Menschen, bei denen die Belastung auf ein Vor-Corona-Niveau zurückgegangen sei.
Die Studie zu Einsamkeit von Jugendlichen nach der Pandemie in NRW empfiehlt:
"Psychische Belastungen wie negative Lebensereignisse oder psychische Erkrankungen gehen bei vielen Jugendlichen mit erhöhter Einsamkeit einher. Dabei kann die Einsamkeit Ursache, direkte Folge oder indirekte Begleiterscheinung der psychischen Belastung sein, und im schlimmsten Fall können sich die akute Belastung und Einsamkeit gegenseitig verstärken. Um diese Negativspirale zu unterbrechen, müssen Jugendliche mit psychischen Belastungen besser aufgefangen werden. Beispielsweise könnten bereits existierende Beratungsstellen stärker beworben und finanziell unterstützt werden."
Genau das fordert auch die Diakonie RWL. Dass dies notwendig ist, kann Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann nur bestätigen. "Die Lücke zwischen öffentlichem Geld und den tatsächlichen Kosten wird immer größer", sagt er. Er fordert dringend eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der Beratungsstellen durch die Kommunen und das Land NRW. "Nur so können Familien, junge Menschen und andere Hilfesuchende die notwendige Unterstützung erhalten, die sie brauchen", so Heine-Göttelmann.