12. August 2024

Themenreihe Familie

Druck von allen Seiten

Der Krieg in der Ukraine, die Nachwirkungen der Pandemie, weltpolitische Krisen und der Klimawandel belasten viele Menschen schwer. Das merken Familien-, Paar- und Lebensberatungsstellen an einer erhöhten Nachfrage. Obwohl der Bedarf steigt, sind die finanziellen Bedingungen dieser wichtigen Arbeit so schwierig wie nie zuvor.

  • Berater im Gespräch
  • Paar in einem Gespräch in der Beratungsstelle

Die großen weltpolitischen Krisen kommen immer näher: Der Krieg in der Ukraine, die Nachwirkungen der Pandemie, der Klimawandel und die Frage nach unseren zukünftigen Lebensgrundlagen sind längst keine abstrakten Probleme mehr, sondern Realität mit Folgen für uns alle. Viele Menschen erleben eine tiefe Verunsicherung und teilweise Überforderung, berichten die evangelischen Erziehungsberatungsstellen und Familien-, Paar- und Lebensberatungsstellen im Gebiet des Diakonischen Werkes Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL). Das sind die aktuell sechs wichtigsten Punkte:

Regina Wittler

"Unsere Wartelisten werden immer länger", sagt Regina Wittler, Leiterin der evangelischen Beratungsstelle für Erziehungs-, Paar- und Lebensfragen in Dortmund.

1) Lange Wartelisten

Immer mehr Menschen suchen bei ihnen Rat – und zwar mit immer komplexeren Themen, wodurch längere Beratungszeiten notwendig sind. "Wie sehr Familien, Paare und Alleinstehende belastet sind, zeigt sich in ihren immer komplexer werdenden Problemen", so Regina Wittler, Leiterin der evangelischen Beratungsstelle für Erziehungs-, Paar- und Lebensfragen in Dortmund. "Die Menschen suchen unsere Beratungsstelle immer häufiger und über einen längeren Zeitraum auf, während einmalige Gespräche abnehmen. Unsere Wartelisten werden deshalb immer länger."
 
Die Dortmunder Beratungsstelle ist kein Einzelfall: Das Thema Wartelisten ist ein drängendes unter den evangelischen Beratungsstellen. "Alles deutet auf einen drohenden Versorgungsengpass hin", warnt Diakonie RWL-Referentin Deane Heumann. "Für die Erziehungs- und Familienberatung besteht die Gefahr, dass nicht mehr alle Familien mit Bedarf erreicht werden oder ausreichend Hilfe bekommen. Das gleiche gilt für die Menschen, die Unterstützung bei der Paar-, Familien- und Lebensberatung suchen."
Thomas Dobbek

"Der neue Schwerpunkt ist die psychologische Beratung", sagt Thomas Dobbek, Leiter der Evangelischen Beratungsstelle für Erziehungs-, Jugend-, Partnerschafts- und Lebensfragen in Bonn.

2) Komplexere Probleme

Früher beantworteten die Erziehung- und Familienberatungsstellen oftmals klassische Erziehungsfragen wie "Wie gehe ich mit Trotz- und Wutanfällen bei meiner Dreijährigen um?" oder Unsicherheiten im Umgang mit Jugendlichen in der Pubertät wie "Wir erreichen unser Kind nicht mehr". Mittlerweile sind die Fragestellungen komplexer geworden, berichtet Thomas Dobbek, Leiter der Evangelischen Beratungsstelle für Erziehungs-, Jugend-, Partnerschafts- und Lebensfragen in Bonn. "Die klassische Erziehungsberatung ist lange vorbei. Die klassische 'Eheberatung', wie die Paarberatung früher hieß, ebenfalls", so der Psychotherapeut. "Der neue Schwerpunkt ist vielmehr die psychologische Beratung. Die Coronapandemie hat uns eine Welle an Jugendlichen beschert, die vereinsamt, depressive Symptomatiken und Ängste hat."

3) Mehr Jugendliche in der Beratung

Diese Feststellungen in der Praxis bestätigt auch die Forschung: Der Abschlussbericht der interministeriellen Arbeitsgruppe Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona (2023) verzeichnet einen Anstieg von psychischen und sozialen Belastungen in den jüngeren Altersgruppen. In ihrer Not wenden sich mehr junge Menschen an die Erziehungs- und Familienberatungsstellen. "Unter den Jugendlichen spricht es sich herum, wo man hingehen kann, wenn man Probleme hat", sagt der Bonner Dobbek. Sein Kollege bei der Diakonie Rhein-Kreis Neuss, Michael Williams, bestätigt das: "Die Mund-zu-Mund-Propaganda ist ein wesentlicher Faktor, dass uns Jugendliche finden. Zudem machen sich unsere gute Netzwerkarbeit und die präventiven Angebote an Schulen, Konfirmandenunterricht oder in der Lehrer*innenausbildung bemerkbar", so der Leiter der Jugendberatungsstelle Neuss. 
Deane Heumann

Die Beratungsstellen versuchen oft, die Wartezeit auf einen Therapieplatz beraterisch zu überbrücken, sagt Diakonie RWL-Expertin Deane Heumann.

4) Überlastetes System

Aber nicht nur die steigende Nachfrage und komplexere Problemlagen beschäftigen die Beratungsstellen. Die anderen Hilfesysteme sind überlastet. So gibt es Versorgungsengpässe bei der Kinder- und Jugendpsychotherapie und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Vielerorts müssten Kinder und Jugendliche zwei Jahre auf einen Therapieplatz warten, sagt Diakonie RWL-Expertin Deane Heumann. Das wirkt sich direkt auf die Beratungsstellen aus, die sich in der Verantwortung sehen, die Wartezeit beraterisch zu überbrücken. "Wir erleben auch oft Rückverweise: Wenn die Kinder- und Jugendpsychiatrie vordergründig einen erzieherischen Bedarf feststellt, verweist sie an die Erziehungsberatungsstellen", so Heumann.

5) Überlastung durch Fachkräftemangel

In vielen Städten und Gemeinden sind nach Beobachtung der Beratungsstellen die Jugendämter massiv überlastet. Hier schlägt der Fachkräftemangel zu Buche: Stellen sind oftmals lange unbesetzt. "Gab es früher viel gemeinsames Wissen und gemeinsame Erfahrungen der Zusammenarbeit, sind durch die hohe Fluktuation in den Jugendämtern die Mitarbeitenden oftmals nicht mehr bekannt", schildert Heumann. Vielerorts reduzierten die Jugendämter daher ihre Standards und führten kaum noch selbst Beratung durch. "Es wird teilweise standardisiert an die Familienberatungsstellen verwiesen, wenn es nicht um eine Kindeswohlgefährdung geht", fasst Deane Heumann die Erfahrungsberichte der westfälischen Beratungsstellen zusammen.
 
"Stellen Sie sich einen Springbrunnen mit mehreren Etagen vor. Wenn die oberen Schalen überlaufen, fließt viel Wasser in die untere Schale, die dann auch überläuft", so die Diakonie RWL-Referentin. "Wenn die anderen Systeme überlastet sind, kommt immer mehr unten in der Schale der Beratungsstellen an. Es ist völlig logisch, dass diese dann auch überlastet sind. Die Leidtragenden sind dabei insbesondere Familien und junge Menschen mit erzieherischen Bedarfen."
Vanessa Kamphemann

Die Diakonie Paderborn-Höxter finanziert ihre Familien-, Paar- und Lebensberatung rein aus Kirchensteuermitteln, so Vorständin und Geschäftsführerin Vanessa Kamphemann.

6) Ausbau dringend nötig, doch Geld fehlt
Obwohl die Beratungsstellen eher ausgebaut werden müssten, haben sie mit dem Halten des Status quo und dem Aufrechterhalten des Qualitätsniveaus der Beratung zu kämpfen. Seit 1993 werden keine neuen Beratungsstellen mehr in die Landesförderung NRW aufgenommen. Ausgebaut wurde die spezialisierte Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. 
 
Nicht in der Landesförderung ist die Diakonie Paderborn-Höxter e.V.: "Bei uns ist die Familien-, Paar- und Lebensberatung rein aus Kirchensteuermitteln finanziert", so Vorständin und Geschäftsführerin Vanessa Kamphemann. "Immer mehr Menschen suchen unsere Beratungsstelle auf und brauchen Unterstützung. Um das Angebot auch weiter angesichts rückläufiger Kirchensteuer und steigender Nachfrage zu sichern, würden wir gerne die Landesförderung in Anspruch nehmen. Leider ist das nicht möglich."
 
Eine weitere finanzielle Belastung sind die steigenden Trägeranteile. Bei den Beratungsstellen, die mit ihrem Jugendamt keine Dynamisierung vereinbaren konnten, gehen die Tarifsteigerungen zu 100 Prozent zu Lasten der Träger. Doch die Träger kämpfen bereits mit sinkenden Einnahmen aus der Kirchensteuer und steigenden weiteren Kosten, so dass es immer mehr zum Balanceakt wird, wichtige Bereiche "quer" zu finanzieren. Wie etwa in Köln, wo die evangelische Kirche aufgrund des hohen Bedarfs seit vielen Jahren aus eigener Tasche eine zusätzliche halbe Stelle für die Paarberatung bezahlt. Trotz der zusätzlichen halben Stelle müssen Paare ein halbes Jahr auf eine Beratung warten. "Das führt dazu, dass wir bei unseren Hilfen priorisieren müssen und auch Menschen wegverweisen", erklärt Christian Gröger, Geschäftsführer der Evangelischen Beratungsstelle Köln, Bensberg und Frechen im Evangelischen Kirchenverband Köln und Region. "Das ist für die Paare häufig schrecklich, kann es doch sein, dass ein halbes Jahr später der Partnerschaftsstreit so eskaliert ist, dass das Paar getrennt ist." Besonders tragisch sei es, wenn Kinder oder Jugendliche von den Trennungen betroffen sind.
 
Gröger beschäftigt die immer größer werdende Lücke zwischen öffentlichem Geld und den Kosten. Das öffentliche Geld ist festgeschrieben und wird nicht dynamisiert. "Da die Personalkosten jetzt stark gestiegen sind, führt dies zu einer hohen Mehrbelastung", schildert er. Für 2024 habe man mit der Stadt und den politischen Vertreter*innen eine Lösung gefunden, für das kommende Jahr liefen die Verhandlungen. 
Christian Heine-Göttelmann

Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann warnt vor Schließungen oder Trägerwechsel.

Fazit: Wer bei Beratung spart, zahlt später drauf

Eine dauerhafte Lösung ist die Querfinanzierung nicht: "Auf lange Sicht können die Träger die finanziellen Lücken nicht füllen. Es drohen Schließungen oder Trägerwechsel", sagt Christian Heine-Göttelmann, Vorstand der Diakonie RWL. Das Land Nordrhein-Westfalen unterstützt zwar mit seiner Landesförderung die Struktur der Beratungsstellen. "Da das Land seit Jahren die Förderung nicht erhöht hat, nimmt diese jedes Jahr real ab", so Heine-Göttelmann. Aktuell deckt die Landesförderung im Schnitt ein Viertel der Personalkosten und entsprechend 20 Prozent der Betriebskosten der evangelischen Beratungsstellen. Erschwerend kommt hinzu, dass mit den landesgeförderten Stellen keine Drittmittel eingeworben werden dürfen, die aber dringend notwendig sind. Wenn es diese Möglichkeit im Rahmen der Landesförderung gäbe, wäre für manche Einrichtung zumindest Spielraum geschaffen, zusätzliche Angebote gegen Entgelt zu machen wie für Firmen im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements. 

Es besteht Handlungsbedarf. "Die Kommunen und das Land NRW müssen sicherstellen, dass Familien-, Paar- und Lebensberatungsstellen ausreichend finanziell und personell ausgestattet sind", sagt Christian Heine-Göttelmann. Nur so könnten Familien, junge Menschen und andere Hilfesuchende weiterhin die notwendige Unterstützung erhalten. "Beratung ist nachweislich effektiv und kostengünstig: Sie verbessert das familiäre Zusammenleben, stärkt die Erziehungskompetenz und hilft Eltern und jungen Menschen im Umgang mit belastenden Situationen." In den Familien-, Paar- und Lebensberatungsstellen finden die Menschen schnelle Hilfe, bevor ihre Probleme noch komplexer und sie lange krank werden und auf Psychotherapie oder einen stationären Klinikaufenthalt angewiesen sind – auch mit wirtschaftlichen Folgen. "Wer bei der Beratung spart, zahlt später drauf", so Heine-Göttelmann. "Nur wer in den Sozialstaat investiert, macht unsere Gesellschaft stark für die Zukunft."

Text: Deane Heumann, Redaktion: Jana Hofmann; Fotos: Diakonie RWL, Lotte Ostermann, Canva, Privat, Diakonie Paderborn-Höxter, Evangelische Beratungsstelle Bonn

Ihr/e Ansprechpartner/in
Deane Heumann
Geschäftsfeld Familie und junge Menschen
Weitere Informationen

Im Gebiet der Diakonie RWL gibt es insgesamt 141 Beratungsstellen, 92 von ihnen bieten Familien-/Erziehungsberatung und Paar-, Familien- und Lebensberatung an. 
Typisch für evangelische Beratungsstellen ist, dass sie oftmals als integrierte Beratungsstellen arbeiten: Es finden sich also unter einem Dach Kombinationen aus Schwangerschafts(konflikt-)beratung, Paar-, Familien-, Lebensberatung und Erziehungsberatungsstellen. Damit sind die Wege von einem Beratungsschwerpunkt zum anderen kurz.

Erziehungsberatungsstellen (nach Paragraf 28 SGB VIII) bieten erzieherische Hilfen, auf die ein individueller Rechtsanspruch besteht für Eltern, Jugendliche, Kinder unter 14 Jahren ohne ihre Eltern sowie junge Volljährige. Die Beratungsstellen unterstützen die Familien bei der Erziehung. Vielerorts haben die Jugendämter außerdem die Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung sowie die Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge – also die Versorgung des Kindes – und des Umgangsrechts – also den Kontakt des Kindes zum Elternteil – an die Familienberatungsstellen übertragen.

An Paar-, Familien- und Lebensberatungsstellen können sich grundsätzlich alle Menschen wenden, also auch ältere Menschen, Paare ohne Kinder oder Alleinlebende. Häufig geht es um berufliche Themen, Fragen der Partnerschaft oder zunehmend um Einsamkeit.

Ein großer Unterschied ist die Finanzierung der Beratungsstellen: Die klassischen Erziehungsberatungsstellen sind Pflichtaufgabe der Kommune und werden in Nordrhein-Westfalen neben der freiwilligen Landesförderung kommunal finanziert. Die Finanzierung der Paar-, Familien- und Lebensberatung hingegen ist gesetzlich nicht umfassend geregelt und steht in kirchlicher Tradition.