12. Januar 2021

Handreichung für Ehrenamtliche

Scham – Tabu und Chance

Mal wieder ins Fettnäpfchen getreten? Und danach ganz rot geworden? Scham begleitet uns unser Leben lang und prägt unsere Beziehungen. Doch darüber reden wir nur ungern. Eine neue Handreichung der Diakonie RWL, Hessen und Rheinland-Pfalz will dieses Tabu in der Ehrenamtsarbeit brechen. Diakonie RWL-Referentin Karen Sommer-Loeffen hat daran mitgeschrieben.

  • Scham - viele Finger zeigen auf eine Frau (Foto: pixabay)
  • Titelbild der Diakonie RWL-Broschüre zu Scham und Ehrenamt

Beim Thema Scham denken viele wohl eher an ihre Erfahrungen in Schule oder Beruf, weniger an ein Ehrenamt. Welche Rolle spielt die Scham ausgerechnet dort?

In der Ehrenamtsarbeit stehen tatsächlich andere Themen im Vordergrund. Es geht viel um die Gewinnung neuer Ehrenamtlicher, um das Verhältnis von Haupt- und Ehrenamtlichen, um Aufgabenprofile und Anerkennungskultur. Doch wenn wir genauer hinsehen, entdecken wir, dass dahinter nicht selten das starke Gefühl der Scham steht. Immer wieder erleben unsere Ehrenamtskoordinatorinnen und -koordinatoren in der Diakonie, dass sich freiwillig Mitarbeitende plötzlich zurückziehen und wissen nicht genau, warum. Über Scham wird nicht geredet. Mit der Handreichung wollen wir eine Anregung geben, sich stärker mit diesem grundlegenden Gefühl, seinen Ursachen und Auswirkungen zu beschäftigen. Wir glauben, dass es unsere Beziehungen und Beziehungsabbrüche stärker prägt als wir gemeinhin annehmen.

Diakonie RWL-Referentin Karen Sommer-Loeffen (Foto: Sabine Damaschke)

Diakonie RWL-Referentin Karen Sommer-Loeffen hat an der Handreichung mitgeschrieben.

Scham ist ein Gefühl, das beim Menschen ab dem 2. Lebensjahr auftritt. Wir erleben es oft als negativ, aber ist das richtig?

Der US-amerikanische Psychiater Léon Wurmser hat Scham als "Wächterin der menschlichen Würde" bezeichnet. Sie zeigt uns, wann wir grenzverletzend gegenüber uns selbst oder anderen sind und ist insofern ein wichtiger Regler der zwischenmenschlichen Kommunikation. Wer Scham empfindet, denkt über sich nach. Das spielt für die Entwicklung unserer Persönlichkeit und unser soziales Miteinander eine große Rolle. Für unsere Schamgefühle sollten wir uns also nicht schämen. Aber es gibt neben dieser gesunden auch eine traumatische Scham, mit der wir uns in der Handreichung intensiver beschäftigen, weil sie die Zusammenarbeit negativ beeinflusst.

Wie sieht diese "traumatische Scham" aus?

Wissenschaftler unterscheiden vier Typen dieses Schamgefühls: die „Missachtungs-, Intimitäts-, Gewissens- und Peinlichkeitsscham. Für alle vier kann ich typische Beispiele aus der Ehrenamtsarbeit nennen. Es beschämt Mitarbeitende, wenn sie regelmäßig von wichtigen Informationen ausgeschlossen werden. Sie fühlen sich missachtet, weil sie als einzige keinen Newsletter erhalten oder keinen Schlüssel für die Einrichtung, in der sie sich engagieren. In ihrer Intimität fühlen sie sich verletzt, wenn ein anderer Ehrenamtlicher sich im Team über sie lustig macht oder peinlich berührt, wenn andere bei ihren Bemerkungen die Augen verdrehen. Die „Gewissensscham“ tritt zum Beispiel bei einem anderen Hilfeverständnis auf, das nicht respektiert wird, etwa in der Frage, ob an Bedürftige Essen oder Geld verteilt wird. Es kann auch zu einer Frage des Gewissens werden, ob die ehrenamtliche Arbeit mit Risikogruppen in der Corona-Pandemie fortgesetzt werden sollte.

Ist es den Ehrenamtlichen denn überhaupt bewusst, dass all das mit Scham zu tun hat?

Nein, in der Regel nicht. Deshalb finde ich die Handreichung wertvoll. Sie ermöglicht uns, bestimmte Verhaltensweisen als Reaktion auf beschämende Erfahrungen einzuordnen. Denn auf dieses starke Gefühl reagieren wir mit Rückzug oder Angriff. Wir verhalten uns angepasst oder versuchen, uns unangreifbar zu machen, indem wir andere beschämen, zynisch werden. Das kann sich gegen Mitarbeitende des ehrenamtlichen Teams richten, aber natürlich auch gegen die Menschen, denen sie helfen. Das greifen wir in der Handreichung ebenfalls auf.

Das Team der Ehrenamtlichen von der Bahnhofsmission Dortmund steht vor einem Zug. (Foto: Bahnhofsmission Dortmund)

Sich zugehörig fühlen - das macht ein gutes Ehrenamt aus.  Die Bahnhofsmission Dortmund hat ihren Teamgeist vor der Pandemie mit einem Foto ausgedrückt.

Was sollten Ehrenamtskoordinatoren auf Scham reagieren?

Es geht uns nicht darum, Scham abzuschaffen oder zu verdrängen, sondern bewusst mir ihr umzugehen und sie zu thematisieren. Wir brauchen einen respektvollen Umgang mit einander, sogenannte "Räume der Würde". Dazu gehören vier Aspekte: Zugehörigkeit, Integrität, Anerkennung und Wertschätzung sowie Schutz und Respekt. Ehrenamtliche wollen sich zugehörig fühlen – zu einem Team, einer Aufgabe, einer diakonischen Einrichtung. Sie möchten ihre Werte einbringen können und wünschen sich Anerkennung für das, was sie dort freiwillig leisten. In der Handreichung gehen wir deshalb ausführlich auf das Thema "Loben" ein. Ich kann nämlich auch so loben, dass ich andere damit beschäme. Alles, was wir in der Handreichung beschreiben, gilt für Ehren- und Hauptamtliche sowie für die Nutzerinnen und Nutzer des sozialen Engagements.

Wie sieht dieser "Raum der Würde" praktisch aus?

Zunächst ist das Gespräch sehr wichtig. Ehrenamtskoordinatoren sollten wissen, welche Bedürfnisse und Werte Ehrenamtliche haben und regelmäßig in einen bilateralen Austausch mit ihnen gehen. In der Pandemie, die auch viele Ehrenamtliche an den Rand ihrer Kräfte gebracht hat, sind solche Gespräche vernachlässigt worden. Aber wir halten sie für enorm wichtig, damit Ehren- und Hauptamtliche gut zusammenarbeiten und ihre Tätigkeit als erfüllend erleben können. Grundlegend ist für uns aber auch das Zuhören, Transparenz in den Abläufen der Einrichtung sowie eine Kultur der Wertschätzung. Zu den Bausteinen dieses "Raumes der Würde " zählt für uns ebenfalls eine Klarheit in den Rollen, Aufträgen und Strukturen.

Das Interview führte Sabine Damaschke.

Ihr/e Ansprechpartner/in
Karen Sommer-Loeffen
Geschäftsfeld Krankenhaus und Gesundheit
Weitere Informationen

Die Handreichung "Scham – Zwischen Tabu und Chance" wird von der Diakonie RWL, Diakonie Hessen und Diakonie Rheinland-Pfalz herausgegeben. Sie richtet sich vor allem an die rund 700 Ehrenamtskoordinatoren der drei Landesverbände, die etwa 300.000 Ehrenamtliche in diakonischen Einrichtungen begleiten. Mit den Engagierten in Kirchengemeinden sind es weit mehr als doppelt so viele. Für alle, die sich für ein Ehrenamt interessieren, hat die Diakonie Informationen in ihrem Hilfeportal zusammengestellt. 

Die Handreichung kann auch kostenfrei in gedruckter Form ab Anfang Februar bei der Diakonie RWL bestellt werden unter k.sommer-loeffen@diakonie-rwl.de.