Aktuelles
Jahresbericht Abschiebungsbeobachtung

Kindeswohl hat Vorrang – auch bei Abschiebungen

Sie setzen sich dazu, beobachten, suchen das Gespräch und dokumentieren: Judith Fisch und Mert Sayim beobachten an den Flughäfen in NRW Abschiebungen. Sie pochen auf die Einhaltung von Menschenrechten wie die Wahrung der Würde. Ihr aktueller Bericht zeigt: Zu oft werden diese Werte missachtet – vor allem bei Kindern.

Flucht und Migration
Judith Fisch und Mert Sayim stehen in der Abflughalle des Düsseldorfer Flughafens.
Judith Fisch und Mert Sayim von der Abschiebungsbeobachtung der Diakonie RWL am Düsseldorfer Flughafen. Foto: Diakonie RWL/Christoph Bild
Mert Sayim und Judith Fisch stehen vor dem Zaun des Abschiebe-Terminals.
Judith Fisch und Mert Sayim von der Abschiebungsbeobachtung der Diakonie RWL am Abschiebe-Terminal des Düsseldorfer Flughafens. Foto: Diakonie RWL/Christoph Bild
Mert Sayim und Judith Fisch stehen vor dem Zaun des Abschiebe-Terminals.
Judith Fisch und Mert Sayim von der Abschiebungsbeobachtung der Diakonie RWL am Abschiebe-Terminal des Düsseldorfer Flughafens. Foto: Diakonie RWL/Christoph Bild
Judith Fisch und Mert Sayim in ihrem Büro am Düsseldorfer Flughafen.
Judith Fisch und Mert Sayim von der Abschiebebeobachtung der Diakonie RWL beobachten und dokumentieren Abschiebungen am Flughafen Düsseldorf. Foto: Diakonie RWL/Christoph Bild

Es geschieht ganz unerwartet: Gerade noch folgt eine Mutter mit ihren beiden Söhnen der Bundespolizei zur Gepäckkontrolle, im nächsten Moment leistet die Frau aus Nigeria Widerstand. Gerade haben ihr die Beamten erklärt, dass sie und ihre Kinder zurück nach Nigeria geflogen werden. Da verliert die Frau die Fassung, wehrt sich, ruft unzusammenhängende Worte und wird schließlich in den Arztraum des Flughafens getragen – um sich zu beruhigen. Der jüngere Sohn (6) schreit laut, will seiner Mutter helfen. Der Ältere rührt sich nicht und beobachtet die Situation starr, wie im Schock. Als der Sechsjährige weint, setzt sich eine Bundespolizistin zu ihm und nimmt ihn in den Arm. Viel später werden die Mutter und ihre Söhne getrennt voneinander in das Flugzeug begleitet – und abgeschoben.

Judith Fisch und Mert Sayim in ihrem Büro am Düsseldorfer Flughafen.
Judith Fisch und Mert Sayim von der Abschiebebeobachtung der Diakonie RWL beobachten und dokumentieren Abschiebungen am Flughafen Düsseldorf. Foto: Diakonie RWL/Christoph Bild

Abschiebungen dokumentieren

Judith Fisch und Mert Sayim von der Diakonie RWL sind in diesen Momenten dabei. Sie dokumentieren, stehen für Gespräche bereit, stellen Fragen an die Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei. Sie dürfen nicht eingreifen, nicht die Abschiebeentscheidung hinterfragen. Aber sie sind da und sorgen für Transparenz. Ihre Beobachtungen nehmen sie mit in das "Forum Flughäfen in Nordrhein-Westfalen", in dem neben der Diakonie auch die evangelische und katholische Kirche, das UNHCR, weitere Nicht-Regierungsorganisationen wie Amnesty International, Pro Asyl, der Flüchtlingsrat NRW, die Liga der Freien Wohlfahrtspflege sowie das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration, die Bundespolizei und die Zentralen Ausländerbehörden vertreten sind. Hier trugen die Abschiebungsbeobachter auch den Fall der nigerianischen Mutter und ihrer beiden Söhne vor. Und sie brachten eine dringende Empfehlung mit: Rückführungen, an denen Kinder oder Jugendliche beteiligt sind, sollten künftig von einer neutralen Person begleitet werden – etwa vom Jugendamt –, um das Kindeswohl sicher zu stellen.

Mutter mit Kind am Flughafen.
Mutter mit Kind am Flughafen. (Foto: Shutterstock)

Dramatische Situationen

Diese Empfehlung wiederholen Judith Fisch und Mert Sayim nun ausdrücklich in ihrem Jahresbericht – in dem sie den Fokus auf die Abschiebungen von Kindern und Jugendlichen legen. Und sie stellen fest: Viel zu oft werde das Kindeswohl bei Rückführungen nicht beachtet. Insgesamt 51 Fälle wurden von der Abschiebungsbeobachtung 2022 als diskussionswürdig eingestuft – 16 Mal war das Kindeswohl betroffen. Dann würden Kinder und Jugendliche Zeuge dramatischer Situationen am Flughafen, Familien würden getrennt, Söhne und Töchter müssten zwischen ihren Eltern und den Behörden dolmetschen. "Wir brauchen klare Richtlinien, die diese Verstöße gegen das Kindeswohl verhindern", betont Judith Fisch. 

Die Abschiebebeobachterin ergänzt: Die Abläufe am Flughafen seien inzwischen transparent. „Aber was in den Stunden und Tagen davor geschieht, da fehlen uns Richtlinien und die Einsehbarkeit. Am Flughafen beobachten wir die Auswirkungen davon.“ Sie erkenne aktuell keinen Willen der Behörden, das zu ändern. So würden mitten in der Nacht Türen eingetreten, um Familien für ihre Abschiebung zum Flughafen zu bringen. Oder Menschen würden direkt in der Ausländerbehörde festgenommen. Es komme auch vor, dass Familien für die Abschiebung getrennt werden. Und auch die Kommunikation stimme oft nicht: Müttern und Vätern werde häufig erst am Flughafen die Situation erklärt: "Obwohl das viel früher und an anderer Stelle hätte stattfinden müssen", sagt Judith Fisch.

Judith Fisch setzt sich dafür ein, dass bei Abschiebungen Kinder und Jugendliche stärker geschützt werden. Foto: Christoph Bild
Judith Fisch setzt sich dafür ein, dass bei Abschiebungen Kinder und Jugendliche stärker geschützt werden. Foto: Christoph Bild

Abholung mitten in der Nacht

Der Appell und der Einsatz für das Kindeswohl der Abschiebebeobachtung sind nicht neu. "Dieses Thema wird seit Jahren besprochen", sagt Judith Fisch. Es dürfe nicht sein, dass man sich über geltendes Recht hinwegsetze. Und deswegen fordert der aktuelle Bericht nun vor allem einheitliche Standards und die Beachtung von Kindeswohl: Familien müsse der Abschiebetermin vorab angekündigt werden und dürfe nicht mitten in der Nacht liegen, um belastende und bedrohliche Situationen bei der Abholung zu vermeiden.

Das Jugendamt müsse mehr in die Entscheidungen der Behörden mit einbezogen werden. Bei erwartbar belastenden Situationen müsse eine dritte Person – am besten vom Jugendamt – schon bei der Ankunft an der Unterkunft an die Seite der Kinder und Jugendlichen gestellt werden, um diese zu schützen, ihnen die Situation zu erklären und sie bis zum Abflug zu begleiten. Erste Gespräche mit dem Jugendamt habe es gegeben – eine allgemeine Empfehlung sei aber noch nicht in Sicht. Und: Familienmitglieder dürften nicht voneinander getrennt werden. Es brauche außerdem Leitlinien für die Ausländerbehörden, in welchen Fällen Dolmetscher hinzugezogen werden müssen – um die Kinder nicht in Situationen zu bringen, in denen sie sensible Informationen für ihre Eltern übersetzen sollen.

Mert Sayim schafft gemeinsam mit seiner Kollegin ein Bewusstsein für Abschiebung und Abgeschobene. Foto: Christoph Bild
Mert Sayim schafft gemeinsam mit seiner Kollegin ein Bewusstsein für Abschiebung und Abgeschobene. Foto: Christoph Bild

Bewusstsein schaffen

Unterdessen sind Judith Fisch und Mert Sayim weiterhin an den NRW-Flughäfen im Einsatz – mindestens einmal in der Woche. "Man merkt, dass wir vor Ort sind", sagt der gelernte Sozialarbeiter. "Zwangsmaßnahmen wie Fesselungen werden von Beamtinnen und Beamten, die auf uns zukommen, erläutert. So wird vieles nachvollziehbarer", sagt Mert Sayim und lobt die in den meisten Fällen gute Zusammenarbeit mit der Bundespolizei. "Die Beamten haben einen anderen Auftrag als wir", erinnert er. "Wir sind da, um das Bewusstsein zu schaffen, in welcher Situation die Menschen sind, die abgeschoben werden. Wir erinnern daran, was das für sie bedeutet." 

Und so nehmen sich Mert Sayim und die gelernte Psychologin Judith Fisch Zeit, mit den Menschen zu sprechen. "Es ist wichtig, dass wir die Not der Menschen an uns heranlassen. Es wäre falsch, wenn uns diese Situation kalt lassen würde", sagt Judith Fisch. Ihr Kollege spricht von "professioneller Nähe und Empathie". Also fühlen sie mit und sagen das den Menschen auch.

Text: Theresa Demski, Fotos: Christoph Bild, shutterstock

Ansprechperson

Judith Fisch
Referentin
Flucht, Migration und Integration
J.Fischatdiakonie-rwl.de

Infobox

Abschiebungen 2022

Insgesamt 10.777 Menschen wurden in Deutschland im vergangenen Jahr abgeschoben – 428 mehr als im Vorjahr. An den Flughäfen Düsseldorf, Köln/Bonn und Dortmund wurden 1.016 Personen per Sammelcharter abgeschoben, 685 Personen während Einzelmaßnahmen. In NRW wird hauptsächlich über den Flughafen Düsseldorf abgeschoben – der nach Frankfurt in Deutschland am häufigsten für Rückführungen genutzt wird. Die Zahl der Sammelabschiebungen ist zurückgegangen, ihr Anteil beträgt aber immer noch 67 Prozent in NRW. Zu den Hauptzielen gehören Kosovo/Albanien, Nordmazedonien/Serbien, Georgien, Ghana und Armenien.