Landtagswahl NRW 2022: Flucht und Integration

Vor dem Krieg in der Ukraine fliehen viele Menschen nach Deutschland, vor allem Frauen und Kinder. Die aktuelle politische Lage in Europa zeigt deutlich, wie wichtig es ist, sich für geflüchtete Menschen einzusetzen, um ihnen ein sicheres, vor Krieg und Verfolgung beschütztes Lebensumfeld zu schaffen. Humanitäre Hilfe und unbürokratische, pragmatische Unterstützung ad hoc sind dabei genauso entscheidend, wie es langfristig wirksame eindeutige Regeln und Vereinbarungen für eine gelingende Integration und Teilhabe braucht.

NRW ist traditionell ein Einwanderungsland, rund ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger – das sind fast 5,3 Millionen Menschen – haben eine Einwanderungsgeschichte (Quelle: Statistisches Landesamt NRW). Zudem steht Deutschland vor einem demographischen Wandel und braucht die Zuwanderung von Fachkräften dringender denn je. Deshalb wird es in der kommenden Legislaturperiode verstärkt darum gehen, die Vielfältigkeit unserer Gesellschaft aktiv zu gestalten. Zwar stellt sie unser Miteinander manchmal vor Herausforderungen – sie bietet vor allem aber große Chancen.

1) NRW soll zusätzlich zum Bund ein eigenes humanitäres Aufnahmeprogramm schaffen, um Geflüchtete in akuter Not kurzfristig und unbürokratisch aufnehmen zu können!

Die Landesaufnahmen stellen eine sichere Möglichkeit der Einreise für schutzbedürftige Geflüchtete dar. Die Landesregierung hat bisher die Position vertreten, dass die Aufnahme Geflüchteter ausschließlich Aufgabe des Bundes sei. Das ist unserer Einschätzung nach nicht zutreffend, da andere Bundesländer bereits eigene Landesaufnahmeprogramme in Absprache mit dem Bundesinnenministerium aufgelegt und umgesetzt haben.

Wir möchten, dass das Land NRW ebenfalls wieder ein Landesaufnahmeprogramm startet. Dafür gibt es verschiedene Ansätze, die verfolgt werden können: Aufnahme von syrischen Familienangehörigen oder afghanischer Ortskräfte und Menschenrechtsaktivist*innen mit Familien, Aufnahme aus europäischen Flüchtlingslagern (Relocation) oder außereuropäischen Flüchtlingslagern (Resettlement) sowie nach Seenotrettung in die Kommunen (Seebrücke).

2) Abkehr vom Asylstufenplan: Keine Isolations-Politik und keine Verknüpfung von Aufnahme mit Ausreise und Abschiebung!

Sammelunterkünfte des Landes stehen in keinem Zusammenhang zur Schnelligkeit der Asylverfahren. Stattdessen werden die Asylsuchenden in den Sammelunterkünften unverhältnismäßig lange isoliert, entrechtet und willentlich desintegriert. Im Zentrum der Erstaufnahme sollte der Schutz der Geflüchteten stehen. Das Leben in Sammelunterkünften sollte in der Regel sechs Wochen betragen und drei Monate nicht überschreiten. Anschließend sollen Asylsuchende ungeachtet ihrer weiteren aufenthaltsrechtlichen Perspektive den Kommunen zugewiesen werden. Die bis zu zwei Jahre lang bestehende Wohnpflicht in isolierenden Landesunterkünften verschärft psychische Belastungen und Traumatisierungen und verursacht massive Integrationsprobleme, wie etwa perspektivisch Langzeitarbeitslosigkeit.

Die Diakonie lehnt die Langzeitisolation Geflüchteter in den NRW-Sammelunterkünften und deren Verbindung zu Abschiebung als einen integrationsfeindlichen Irrweg ab. Diese Unterbringungsart verschlechtert das Aufnahmeverfahren für Geflüchtete grundlegend. Die Zuständigkeit und Umsetzung des Asylverfahrens liegt zudem beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dieses hat übrigens 2021 selbst festgestellt, dass die zentralisierte Unterbringung in Großeinrichtungen und die bis zu zwei Jahre bestehende Wohnverpflichtung keine Verfahrensbeschleunigungen auslöste. Es ist zudem falsch, dass abgelehnte Asylsuchende schneller abgeschoben werden können, nur weil sie zuvor in Sammelunterkünften leben müssen.

3) Zugewanderten vom ersten Tag an gut integrieren: Mit Sprachförderung und Bildung, Ausbildung und Arbeit sowie einer umfassenden Gesundheitsversorgung!

Die Integration von zugewanderten Menschen sollte als Chance für unsere Gesellschaft verstanden werden. Hierfür ist eine Umkehr vom Geist der Abwehr notwendig. Die Aufnahme, Versorgung, Unterbringung und gesellschaftliche Integration von Geflüchteten und Zugewanderten muss sich an Nächstenliebe, Menschenrechten und Grundrechten orientieren. Weil wir jeden Menschen als gleichwertigen Teil unserer Gemeinschaft sehen, halten wir als Diakonie RWL eine gesellschaftliche Integration im Sinne eines inklusiven Prozesses vom ersten Tag an für notwendig.

Zur Förderung von Teilhabe und Integration sollten alle Geflüchteten und Zugewanderten unabhängig von Herkunft oder Aufenthaltsstatus ab dem ersten Tag eine Zugangsberechtigung zu Wohnraum, zu Deutsch-Integrationskursen und zu Bildung – von frühkindlicher Bildung, dem Schulwesen bis hin zu Aus-, Fort- und Weiterbildung – haben.

Was aktuell für die Geflüchteten aus der Ukraine gilt, sollte auch allen anderen zugestanden werden. Ausbildung, Studium und/oder Arbeit sind für gesellschaftliche Teilhabe unabdingbar und sollten Zugewanderten unmittelbar möglich sein. Um mitgebrachte Qualifikationen und Kenntnisse berücksichtigen zu können, ist eine Weiterentwicklung bestehender Anerkennungsverfahren notwendig.

4) Diskriminierung entschieden entgegentreten und ein Antidiskriminierungsgesetz für NRW schaffen!

In das reformierte, seit Anfang dieses Jahres geltende Teilhabe- und Integrationsgesetz NRW wurde ein eigener Antidiskriminierungs-Paragraf aufgenommen. Dieser deckt jedoch nicht alle Diskriminierungstatbestände des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes des Bundes ab.

Daher fordern wir ein Landesantidiskriminierungsgesetz, das landesweite Standards setzt, deren Umsetzung und Weiterentwicklung von einer Antidiskriminierungsstelle des Landes begleitet werden müssen. Dieses Gesetz soll Lücken im Diskriminierungsschutz in NRW schließen und die gesetzlichen Möglichkeiten und Anwendungsbereiche des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes erweitern und dadurch stärken. Künftig kann das Land NRW so auf allen Ebenen Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus effektiv und zielgerichtet bekämpfen.

Weiterhin müssen die Beratungsdienste ausgebaut werden. Die von uns geforderte Landesstelle für Antidiskriminierungsarbeit soll Beratung, Forschung und Öffentlichkeitsarbeit leisten. Sie soll als Landesbehörde in kommunale und landesweite Strukturen hineinwirken und Veränderungen – im Handeln und in der Gesetzeslage – bewirken, um strukturelle Diskriminierung und institutionellen Rassismus abzubauen und somit einen effektiven Schutz vor Diskriminierung sicherstellen. Die Berufung einer/eines Antidiskriminierungsbeauftragten soll dieser Stelle ein Gesicht geben.

5) Kommunales Integrationsmanagement (KIM): Unabhängigkeit der Begleitung wahren und Subsidiaritätsprinzip stärken!

Wir fordern die nächste Landesregierung auf, die Umsetzung des Teilhabe- und Integrationsgesetzes (TIntG) so zu begleiten, dass der hier verankerte Ausbau des Kommunalen Integrationsmanagements (KIM) tatsächlich ein effektives Zusammenwirken aller wichtigen Akteure im Interesse der Geflüchteten, der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und der Kommunen befördert.

  • Wir fordern angesichts der enormen Herausforderungen ein klares Bekenntnis zur Subsidiarität und einer strategischen Partnerschaft von Kommunen und Freier Wohlfahrt. Hierfür bedarf es einer klareren Aufgabenzuordnung zwischen Kommunen und Freien Trägern sowie der Bereitschaft der Landesregierung, das KIM künftig stärker zu monitoren. Denn das KIM wird in der Novellierung des TintG (§9) verstetigt, ebenso auch die Finanzierung der Integrationsagenturen / Servicestellen ADA, was wir ausdrücklich begrüßen. Die Paragrafen zur Zusammenarbeit bleiben jedoch bzgl. des Miteinanders von Kommunen und Freier Wohlfahrtspflege unscharf.
  • Es besteht die Gefahr, dass im Rahmen des KIM die Integrationsdienstleistungen der Freien Wohlfahrtspflege (Integrationsagenturen, Jugendmigrationsdienste und Migrationsberatung für Erwachsene) verdrängt oder durch die Kommunen umgesteuert werden. Gründe hierfür sind die fehlende klare Aufgabenverteilung zwischen Angeboten der Kommunen und den bestehenden Programmen, die fehlende Verankerung einer Vereinbarung zur strategischen Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Wohlfahrtspflege in den Richtlinien zu KIM und der fiskalische Druck, der von dem umfassenden Landesprogramm ausgeht. Hierdurch droht insbesondere im Bereich des Case-Managements die Schwächung der Wahlfreiheit der betroffenen Menschen und der freiwilligen, klientenbezogenen, unabhängigen Beratung/Unterstützung, verbunden mit einer weiteren Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips.
  • Aktuelle Problembeschreibungen aus unserer Mitgliedschaft weisen auf Aufgaben- und Angebotsdopplungen im Zuge der Umsetzung von KIM und einer damit verbundenen Unklarheit bezogen auf die Ansprechpartner*innen für die Ratsuchenden vor Ort hin und zeigen insgesamt eine hohe Verunsicherung bei Trägern und Beratenden in unserer Mitgliedschaft an.
 
 

Hier gibt es weitere Hintergrundinformationen: