28. Oktober 2021

Sozialberatung im Flutgebiet

Der Damm hielt, die Angst blieb

Ein Bach, der auf fast drei Meter anschwillt und eine Talsperre, die zu brechen droht: Die Bewohner des nordrhein-westfälischen Ortes Odendorf haben während der Flutkatastrophe besonders dramatische Tage erlebt. Zwar geht es mit dem Wiederaufbau des Eifeldorfes voran. Doch der Alltag ist überschattet von Sorgen und Ängsten.

  • Helfer an der Steinbachtalsperre im Kreis Euskirchen (Foto: Feuerwehr Mönchengladbach)
  • Hauswand im überfluteten Odendorf, auf der "Danke an alle Helfer" geschrieben steht (Foto: Frank Schultze/Diakonie RWL)
  • Baucontainer im vom Hochwasser stark betroffenen Odendorf
  • Nach der Flut: Decken, Schaufeln und Spielzeug in Odendorf

"2,70 Meter - Danke an alle Helfer". Es ist nur ein kurzer, schlichter Satz, der an einer Hauswand im 4.000-Einwohner-Ort Odendorf im Süden Nordrhein-Westfalens steht. Der Dramatik, die sich dahinter verbirgt, wird er nicht gerecht. Denn Swisttal-Odendorf liegt nicht weit entfernt von der Steinbachtalsperre. Die Frage, ob sie nach der Flutnacht brechen und alle umliegenden Dörfer komplett zerstören würde, hielt ganz Deutschland in Atem. Doch der Damm hielt. Die evakuierten Menschen konnten zurück in den Ort. 

"Am Anfang waren alle wie im Automatismus und funktionierten nur", berichtet Christiane Reiferscheid. Sie arbeitet in der Gemeindenahen Sozialarbeit für das Diakonische Werk Bonn und Region. Nachdem sie eine Woche bei Betroffenen am Orbach mitgeholfen hatte, Schlamm aus den Häusern zu tragen, begann sie schnell mit der Auszahlung der Soforthilfen. Dabei handelte es sich um Spendengelder, die über die Diakonie Katastrophenhilfe, die Diakonie RWL und die Evangelischen Kirchengemeinde Swisttal gesammelt und unkompliziert in die Flutgebiete verteilt wurden. Kleinere Beträge, die das Nötigste ermöglicht haben.

Portraitbild von Christiane Reiferscheid (Foto: privat)

Christiane Reiferscheid hat nicht nur Soforthilfen der Diakonie ausgezahlt, sondern auch viele Gespräche mit den betroffenen Menschen geführt.

Soforthilfen der Diakonie 

"Ich habe die Auszahlung der Soforthilfen immer mit einem persönlichen Gespräch verbunden", erzählt Christiane Reiferscheid. Etwa 120 Gespräche führte sie und zahlte rund 70.000 Euro an Soforthilfen aus. "In meine Beratung kamen alte Menschen, die sagten, sie wissen nicht, ob sie noch aufwachen wollen", sagt sie. "Familien, deren gerade erst gekaufte Häuser komplett zerstört wurden, sitzen nun auf einem Berg an Schulden." 

Nach der Dankbarkeit darüber, dass der Damm der Steinbachtalsperre hielt und die Soforthilfen die erste Not linderten, mache sich nun zunehmend ein Gefühl der Verzweiflung und des Zorns breit, berichtet die Sozialarbeiterin. "Viele sorgen sich darum, dass die großen, staatlichen Spendengelder nicht bei ihnen ankommen und der Wiederaufbau noch sehr lange dauert."

Eine Frau öffnet die Haustür in einem renovierungsbedürftigen Flur.

Ingrid Meier ist massiv vom Hochwasser betroffen. Sie hat Spendengelder der Diakonie erhalten.

Dankbarkeit und Sorgen

Auch Ingrid Meier (Name geändert) ist beides anzumerken: Dankbarkeit und Sorge. 450 Euro an Soforthilfe hat sie von Christiane Reiferscheid ausgezahlt bekommen. Sie kaufte sich davon einen neuen Kühlschrank. Und bezahlte den Termin bei der Lymphdrainage, den sie vergessen hatte abzusagen. Denn die Praxis bestand auf ihrem Honorar. 

In ihre kleine Mietwohnung konnte sie nach der Evakuierung zurückkehren. Doch das Erdgeschoss unter ihr ist noch immer im Rohzustand. Der Putz an den Wänden wurde abgestemmt. Die Bautrockner arbeiten unaufhörlich. Ihr Keller mit allen Möbeln, ihre Waschmaschine, viele liebe Erinnerungen sind im Schlammwasser zerstört worden.

Nun sitzt sie in ihrer kleinen Mietwohnung am Esszimmertisch und erzählt von der Flutnacht. "Nur zwei Mal ging an diesem Abend mein Handyempfang", erinnert sie sich. "Das eine Mal rief ich meinen Sohn an und ich sagte ihm: Wähle 112. Es geht keiner dran. Wir sind in Lebensgefahr." Denn die Rettungstrupps hatten genau am Haus davor aufgehört mit der Evakuierung und waren dann verschwunden. Rettungshubschrauber flogen über das Dach und sahen sie doch nicht.

Eine Frau steht am ausgetrockneten Flussbett in Swisttal-Odendorf.

Erinnerung an eine dramastische Nacht: Kaum zu glauben, dass das Wasser hier meterhoch über die Böschung trat.

Die Schrecken der Flutnacht

Der zweite Anruf kam von Meiers Sohn: "Ich stecke mit dem Auto fest. Um mich herum ist nur noch Wasser." Und dann war die Leitung tot. Und Meier dachte die ganze Nacht, was mit ihrem Sohn sei, nahm das Schlimmste an. "Irgendwann habe ich gebetet", sagt sie. Und da hat der Regen aufgehört. Morgens um 6 Uhr stand die Feuerwehr auf der anderen Seite. Erst um 13 Uhr erfuhr sie, dass auch ihr Sohn unversehrt war. Mit dem Schrecken davongekommen, sagt man so schön. Aber den Schrecken, den Ingrid Meier und viele andere in Odendorf erlebten, sitzt tief. 

"Viele Menschen haben hier das Urvertrauen verloren", sagt Christiane Reiferscheid. "Sie bekommen bereits bei leichtem Regen Angst." Die Helferinnen und Helfer des Diakonischen Werkes werden also nicht nur die Antragsbearbeitungen der nun auch sehr hohen Summen, welche aus Spendengeldern ausgezahlt werden, beschäftigen. Auch die erlebten Traumata der betroffenen Menschen werden wohl noch einige Jahre Thema in ihren Beratungen sein.

Text: Jörg Stroisch/Redaktion: Sabine Damaschke, Fotos: Frank Schultze; Teaserfoto: Feuerwehr Mönchengladbach