Wohnungslos in der Corona-Krise
Viel Wald, idyllische kleine Städte und Orte – kaum vorstellbar, dass es im ländlichen Oberbergischen Kreis, einer Region mit 300.000 Einwohnern nahe Köln, Wohnungsnot geben könnte. Doch auch hier fehlt seit Jahren günstiger und kleiner Wohnraum. Wer seinen Job verliert oder – wie während der Corona-Krise üblich – in Kurzarbeit gehen muss, häuft schnell Mietschulden an. Schon 100 bis 400 Euro weniger Einkommen führen Miethaushalte ohne Rücklagen in die finanzielle Misere. Das zeigt eine aktuelle Studie des Sachverständigenrates für Verbraucherschutz der Bundesregierung.
"Im März und April hatten wir keine Räumungsklagen auf dem Tisch, aber jetzt läuft es wieder an", erzählt Wilfried Fenner, der seit über 20 Jahren bei den diakonischen "Wohnhilfen Oberberg" arbeitet. Der 58-jährige Fachbereichsleiter und sein Team sind besorgt darüber. "Für Mieter, die verschuldet sind und womöglich noch einen Schufa-Eintrag haben, ist es ohnehin schwer, eine neue Wohnung zu bekommen. Doch in der Pandemie ist es nahezu unmöglich", ergänzt Sozialarbeiter Morten Kochhäuser.
Beratung hinter Plexiglas: Wilfried Fenner in seinem Büro der "Wohnhilfen Oberberg" (Foto: privat)
Vermieter und Mieter an einen Tisch bringen
Rund 300 Räumungsklagen wegen Mietschulden bekommt der 58-jährige Fachbereichsleiter jährlich mit seinem Team zu Gesicht. Seit vier Jahren erhalten die Wohnhilfen alle Räumungsklagen der drei Amtsgerichte in der Region. Ihr Job ist es, Obdachlosigkeit zu verhindern. Meist geschieht das, indem sie die betroffenen Mieter besuchen und eine Einigung zwischen ihnen und den Vermietern etwa durch Ratenzahlungen herbeiführen. Gelingt das nicht, ziehen die Menschen zu Freunden, leben im Auto oder in einem Zelt im Wald. Manche landen auch in einer Notunterkunft.
"All das darf in Zeiten der Corona-Pandemie, in der es besonders um Schutz und Hygiene geht, nicht vorkommen", betont Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann. Doch nicht nur im Oberbergischen Kreis, auch im Rheinisch-Bergischen-Kreis, in Bielefeld, Iserlohn und Saarbrücken werden laut einer Abfrage der Diakonie RWL wieder Räumungsklagen vollzogen. In den meisten Fällen handelt es sich um Mietschulden, die noch vor der Pandemie entstanden sind.
Eine bereits angewiesene Räumung der Gerichte zu verhindern ist schwierig. (Foto: Shutterstock)
Unabhängigkeit der Justiz
Laut einem Urteil des Landesgerichts Berlin vom 26. März müssen Räumungsfristen bis zum 30. Juni verlängert werden. Doch das Urteil gilt nicht in anderen Bundesländern. So gab es in Nordrhein-Westfalen Mitte März nur einen Erlass des Justizministeriums, in dem allen Gerichten "empfohlen" wurde, den Dienstbetrieb auf das "unbedingt notwendige Maß zu reduzieren". "Doch mit den schrittweisen Lockerungen der Kontaktbeschränkungen nehmen die Gerichtsvollzieher wieder ihre Tätigkeiten auf und setzen Räumungen durch", beobachtet Jan Orlt. Er ist bei der Diakonie RWL für rund 100 Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe zuständig.
Eine bereits angewiesene Räumung zu verhindern, ist schwierig. Betroffene können einen sogenannten "Vollstreckungsschutzantrag" stellen. Doch die Voraussetzung dafür sei eine "besondere Härte", erklärt Orlt. "Da reicht der Hinweis auf die drohende Obdachlosigkeit oft nicht aus."
Sozialarbeiter Morten Kochhäuser besucht die von Zwangsräumungen betoffenen Mieter auch zuhause - natürlich mit Mundschutz. (Foto: privat)
Antrag auf Schutz vor Räumung abgelehnt
Morten Kochhäuser, der im Team von Wilfried Fenner bei den Wohnhilfen Oberberg arbeitet, kann das bestätigen. "Wir hatten gerade den Fall, dass eine Klientin mit Hilfe eines Rechtsanwalts genau diesen Vollstreckungsschutzantrag gestellt hat, aber er wurde abgelehnt." Letztlich habe die Räumung zum Glück nicht stattfinden können, aber aus "formalen juristischen Gründen", erzählt der 35-jährige Sozialarbeiter. Nicht, weil der Frau ein Umzug in die Notunterkunft drohte.
Kochhäuser wie auch sein Chef Fenner wünschen sich, dass sich die Justizbehörden in NRW am Urteil in Berlin orientieren und eine Aussetzung aller Räumungen bis mindestens Ende Juni empfehlen. Auch eine bundesgesetzliche Lösung wäre möglich, wenn die Zivilprozessordnung geändert würde und in der derzeitigen Pandemie Vollstreckungsschutzanträgen stattgegeben werden müsste. Doch danach sieht es nicht aus.
Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann appelliert an das Flüchtlingsministerium, die Fördervorgaben zu überdenken. (Foto: Carls/Diakonie RWL)
Appell an alle Vermieter
Wir können nur an alle Vermieter, private wie Wohnungsbaugesellschaften, appellieren, derzeit auf Räumungsklagen zu verzichten", sagt Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann. Schließlich kosteten auch Zwangsräumungen den Vermieter Geld – häufig zwischen 8.000 und 20.000 Euro. "Oft lassen sich mit Hilfe unserer Experten in der diakonischen Wohnungslosenhilfe bessere Lösungen finden. Denn wer den Dialog zum Mieter und der Wohnungslosenhilfe sucht, vermeidet eine Eskalation und findet häufig eine einvernehmliche und vor allem für den Vermieter kostengünstigere Lösung."
In vielen Fällen schaffen es die Wohnhilfen Oberberg, den Absturz in die Wohnungslosigkeit zu verhindern. "Hinter den Mietschulden stecken tragische Geschichten", erzählt Morten Kochhäuser. "Umso wichtiger ist es, dass die Menschen ihr Zuhause behalten. Das gelingt uns oft in vielen kleinen Schritten."
Text: Sabine Damaschke