Welttag zur Überwindung von Armut
"Da hat jemand ein Problem", weiß Sandra Weinstock, als die Klingel durch das Büro der Allgemeinen Sozialberatung in der Bonner Neustraße schrillt. Die Beraterin zieht sich die Maske über und geht zur Tür. "Ein einfacher Fall", verkündet sie, als sie zurückkehrt. Einem Obdachlosen auf der Suche nach der nächsten Kleiderkammer konnte sie schnell helfen.
So leicht lassen sich die Probleme aber meist nicht lösen, mit denen Sandra Weinstock und ihre Kollegin Iris Hanusch täglich zu tun haben. Die beiden Mitarbeiterinnen der Allgemeinen Sozialberatung der Diakonie An Sieg und Rhein sind Ansprechpartnerinnen für die Schwierigkeiten und Nöte vieler Menschen im Bonner Stadtteil Beuel. Und zwar besonders für all diejenigen, die einkommensarm sind oder von Armut bedroht.
Sandra Weinstock hat in ihrer Sozialberatung häufig mit unverständlicher Post vom Jobcenter zu tun.
Erste Anlaufstelle bei Problemen
"Wir sind oft die erste Anlaufstelle, wenn Menschen alleine nicht mehr mit einem Problem klarkommen", erklärt Hanusch. "Ein bisschen kann man unsere Arbeit mit der eines Hausarztes vergleichen." Ob unverständliche Post vom Jobcenter, Probleme beim Antrag auf Wohngeld, Überschuldung oder häusliche Gewalt: Die Beraterinnen analysieren die Probleme, helfen wenn möglich selbst, oder vermitteln an eine Fachstelle wie etwa die Schuldnerberatung oder die Sucht- und Drogenberatung.
"Die Allgemeine Sozialberatung hat eine Türöffner- und Vermittlungsfunktion zu Ämtern und zu anderen Beratungsstellen", erklärt Heike Moerland, die bei der Diakonie RWL das Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration leitet. Die Beraterinnen nähmen sich Zeit für die Menschen und ermutigten diese, auch selbst tätig zu werden.
Viele wissen nicht, dass sie auch Anspruch auf staatliche Unterstützung haben, zum Beispiel auf Wohngeld.
Verloren im Behörden-Dschungel
Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit sei die Unterstützung bei der Kommunikation mit Ämtern und Behörden, berichten Hanusch und Weinstock. Gerade hat Hanusch etwa ein Ehepaar beraten, das mit seinen vier Kindern beengt in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung lebt. Endlich ist nun eine größere Bleibe mit zwei Kinderzimmern gefunden, doch aus Sicht des Jobcenters ist die Miete zu hoch.
"Wir haben zusammen den Widerspruch gegen die Ablehnung des Jobcenters formuliert", berichtet die Beraterin. Sehr oft kämen auch Menschen, die die Briefe von Behörden einfach nicht verstünden. "Wir leisten ganz häufig Übersetzungsarbeit", berichten die Beraterinnen. Oft suchen Menschen Hilfe, die mit den Leistungen des Jobcenters nicht über die Runden kommen. "Und dann stellt sich zum Beispiel heraus, dass sie überschuldet sind oder krank", sagt Hanusch. "Häufig steht Krankheit am Beginn einer ganzen Kette von Problemen", ergänzt Weinstock. Gerade hat sie etwa einen Frührentner beraten, bei dem sich Mietschulden angehäuft haben. "Da geht es jetzt darum, den Schaden der letzten Jahre zu bereinigen."
Diakonie RWL-Armutsexpertin Heike Moerland will eine öffentliche Refinanzierung der Allgemeinen Sozialberatung.
Wohnungslosigkeit verhindern
Die Arbeit der Allgemeinen Sozialberatung sei auch deshalb so wichtig, weil sie präventiv wirke, betont Moerland. Im Dschungel der Leistungen und Beratungsangebote habe die Allgemeine Sozialberatung eine Lotsenfunktion. "Viele Menschen wissen gar nicht, welche Hilfestellungen ihnen zur Verfügung stehen." Es gebe deshalb eine hohe Dunkelziffer an Leistungen, die nicht in Anspruch genommen würden.
"Eine gute Sozialberatung kann dazu beitragen, dass Menschen die Leistungen bekommen, die ihnen zustehen." Und damit könne oft Schlimmeres wie Wohnungsverlust oder Überschuldung verhindert werden. Dennoch liege die Finanzierung der Beratungsstellen in der Regel allein bei Wohlfahrtsverbänden und Kirchengemeinden, kritisiert Moerland. Die meisten Kommunen sähen sich hier nicht in der Verantwortung. Die Stadt Bonn gehöre zu den wenigen Ausnahmen.
Hier habe die Allgemeine Sozialberatung der Diakonie ein jährliches Fall-Kontingent, das von der Kommune finanziert werde, berichten Hanusch und Weinstock. Eine solche Refinanzierung sollte aber nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein, betont Moerland. "Wir fordern, dass die Allgemeine Sozialberatung flächendeckend öffentlich refinanziert wird." Für dieses Ziel setzt sich auch die Diakonie Deutschland ein.
Eine E-Mail-Adresse einrichten, Termine bei Behörden vereinbaren: Nach fast sechs Jahren Haft war Sven Wirsen oft überfordert. Geholfen hat ihm sein Sozialarbeiter im Wichernhaus.
Beratung in der Pandemie
Gerade in Zeiten von Corona sei die Allgemeine Sozialberatung gefragt, weiß Moerland. Die offenen Sprechstunden konnten im Lockdown zwar nicht wie üblich aufrechterhalten werden. Doch Weinstock und Hanusch boten zu Beginn der Pandemie zunächst Beratungen am Fenster oder Einzelgespräche im Garten an.
Mittlerweile dürfen sie Klienten unter Einhaltung strenger Hygieneregeln auch wieder in den Büroräumen empfangen, allerdings nur mit Termin. Die beiden Beraterinnen stellen aber fest, dass viele ihrer Klienten im Zuge der Pandemie digitale Kompetenzen erworben haben. So können sie manche Fragen vorab online klären, für die zuvor Besuche in der Beratungsstelle notwendig waren. Dennoch werde das direkte Gespräch nach wie vor Kern der Arbeit bleiben. Denn für viele Menschen seien sie Vertrauenspersonen, wissen die beiden Beraterinnen. "Was wir hier machen, ist zu einem großen Teil Beziehungsarbeit", betont Iris Hanusch.
Text und Fotos: Claudia Rometsch; Teaserfoto: pixabay
Die Sozialberatung der Diakonie An Sieg und Rhein
Appell der Kampagne #ArmutAbschaffen
Vor Ort ein offenes Ohr – Diakonie fordert staatliche Finanzierung der Allgemeinen Sozialberatung
Helfen mit Hand und Herz – Sozialberatungen zahlen Sofortgelder an Flutopfer
Soziale Hilfen
Armut überwinden – das gehört zu den Kernaufgaben der Diakonie. Einen Weg sieht sie darin, die Regelsätze für Hartz IV-Empfänger zu erhöhen. Für eine ausgewogene, gesunde Ernährung und ein Mindestmaß an sozialer, politischer und kultureller Teilhabe müssten die Regelsätze auf mindestens 600 Euro steigen. Stattdessen gibt es ab 2022 nur eine minimale Erhöhung von 3 Euro im Monat, die durch die Inflation von rund 4 Prozent sogar zu einer versteckten Kürzung des Existenzminimums führt. In einem gemeinsamen Appell mit anderen Sozialverbänden fordert die Diakonie die noch amtierende Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass bei existenzsichernden Leistungen wenigstens Preissteigerungen immer und zeitnah ausgeglichen werden.