16. Oktober 2020

Welttag zur Beseitigung der Armut

Soziale Arbeit: Mehr als eine Dienstleistung

Das Armutsrisiko in Deutschland ist so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Knapp 16 Prozent der Bürger sind von Armut bedroht. In der Corona-Krise dürfte ihre Zahl noch gestiegen sein. Was bedeutet das für die soziale Arbeit? Bei der Diakonie Mark-Ruhr ist Heidrun Schulz-Rabenschlag täglich mit verschiedenen Facetten von Armut konfrontiert. "Soziale Arbeit muss anders verstanden werden", fordert sie.

  • Themenfoto obdachloser Jugendlicher (Foto: pixabay.de)
  • Themenfoto Obdachloser mit Händen, die ihn schützen (Foto: pixabay.de)

Frau Schulz-Rabenschlag, Sie leiten den Bereich "Beratung und Unterstützung" bei der Diakonie Mark-Ruhr und haben dort mit verschiedenen Menschen zu tun, die von Armut bedroht sind. Wer fällt am stärksten in der Öffentlichkeit auf?

Das sind nach meiner Beobachtung wohnungslose und zugewanderte Menschen. In der Pandemie haben wir viele Sachspenden an Lebensmitteln und Kleidung insbesondere für diese von Armut betroffenen Menschen erhalten. Neben der Empathie gab es aber auch eine kritische und diskriminierende Wahrnehmung dieser Personengruppen als Verbreiter des Covid 19-Virus, weil sie in beengten Obdachlosen-, Flüchtlings- oder Werksunterkünften leben und das Virus von dort in andere Bevölkerungsgruppen tragen. Ich erlebe also derzeit beides: Solidarität sowie Ab- und Ausgrenzung.

Portrait

Heidrun Schulz-Rabenschlag sieht mit Sorge, dass die Zahl der armen Menschen in Deutschland zunimmt. (Foto: Diakonie Mark-Ruhr)

Wie nehmen von Armut betroffene Menschen die Pandemie wahr?

Sie sind genauso besorgt um ihre alten Eltern oder kranke Verwandte wie viele andere in unserer Gesellschaft. Sie haben viele Fragen zum Virus, zu Schutz- und Hygienebestimmungen und viele Ängste, wie sich diese Pandemie weiter entwickelt und wie lange sie dauern wird. Aber es gibt einen großen Unterschied. Ihr Alltag ist deutlich fragiler, weil sie von vielen wichtigen Lebensbereichen ausgegrenzt sind. Die meisten haben keinen Arbeitsplatz, an dem sie sich mit anderen austauschen und informieren können. Sie leben meist in beengten Wohnungen und haben weder Geld für Mobilität, etwa einen Ausflug in eine andere Stadt, noch für Digitalisierung. Wenn sie ein Smartphone besitzen, dann können sie es weniger nutzen, um sich zu informieren. Angst und Isolation nehmen zu.

Wie hat sich Ihre Arbeit in den Beratungsdiensten durch die Pandemie verändert?

Als Diakonie sind wir eine wichtige Ansprechpartnerin in allen Fragen rund um die Pandemie geworden. Unsere Beratung geht über die Klärung rechtlicher oder ökonomischer Aspekte und über das Ausfüllen von Formularen hinaus. Im Lockdown waren wir telefonisch erreichbar, jetzt findet Beratung auch wieder persönlich unter entsprechenden Hygiene- und Abstandsregeln statt. Die Menschen kommen zu uns, weil bei den Behörden immer noch vieles digital und auf Distanz beantragt werden muss. Das aber überfordert von Armut betroffene Menschen.

Team des diakonischen Wohnungslosenprojekts "Luthers Waschsalon" (Foto: Diakonie Mark-Ruhr)

Schon vor der Pandemie engagiert für wohnungslose Menschen und nun erst recht: Das Team des Vorzeigeprojekts "Luthers Waschsalon". (Foto: Diakonie Mark-Ruhr)

Die Diakonie wie auch andere Sozialverbände warnen davor, dass die sozial Benachteiligten in dieser Gesellschaft jetzt noch stärker abgehängt werden. Teilen Sie diese Sorge?

Ja, denn ihre Teilhabechancen haben sich durch die Pandemie deutlich verschlechtert. Wir erleben gerade einen starken Digitalisierungsschub, der viele Menschen ausschließt. Sie beschleunigt den schon lange vorausgesagten Abbau einfacher Tätigkeiten. Das bedeutet: Bald wird es kaum noch Jobs für Menschen geben, die digital nicht gebildet sind. Unser gesamtes soziales Sicherungssystem ist aber über die Erwerbsarbeit aufgebaut und fußt auf einer neoliberalen Marktwirtschaft, die den Einzelnen verantwortlich macht. Das spiegelt sich auch im System der sozialen Beratung, die sich immer stärker an individual-rechtlich bezogenen Leistungen orientiert. Die Politik versteht uns als Dienstleister, der sich möglichst nicht in die Gestaltung und Struktur des Sozialstaates einmischen soll. Aber das ist falsch.

Kann soziale Arbeit denn jemals dazu beitragen, dass Armut "beseitigt" wird, wie es dieser Welttag fordert?

Das ist ein schöner, aber wohl unrealistischer Wunsch. Wir sollten dafür sorgen, dass nicht noch mehr Menschen täglich um ihre Existenz kämpfen müssen und dafür den Mut haben, Neues auszuprobieren – etwa mit einer Grundsicherung statt Hartz IV. Als Wohlfahrtsverbände sollten wir uns dafür einsetzen, dass neben den Leistungen für individuelle Beratungen auch die Arbeit an den Lebensbedingungen, etwa im Quartier, gefördert wird. Sie bedingt nämlich maßgeblich die individuelle Hilfe. Beim Kampf gegen Armut brauchen wir mehr Mut und Kreativität, neue Wege zu gehen.

Das Gespräch führte Sabine Damaschke.

Ihr/e Ansprechpartner/in
Heike Moerland
Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration
Weitere Informationen

Nach aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamtes waren im vergangenen Jahr 15,9 Prozent der Bürger in Deutschland von Armut bedroht, 2018 waren es noch 15,5 Prozent. Allein lebende Personen, die monatlich weniger als 1.074 Euro zur Verfügung haben, gelten danach als armutsgefährdet. Am stärksten betroffen waren Erwerbslose (57,9). Alleinerziehende (42,7), Migranten (35,2) sowie Familien mit drei oder mehr Kindern (30,8). Wie sich die Corona-Pandemie auf das Armutsrisiko auswirkt, ist noch unklar.

Heidrun Schulz-Rabenschlag leitet seit 2014 den Geschäftsbereich "Beratung und Unterstützung" der Diakonie Mark-Ruhr. Er umfasst sechs verschiedene Beratungsbereiche, darunter Hilfsangebote für Erwerbs- und Wohnungslose, Flüchtlinge, Suchterkrankte sowie überschuldete Menschen. In den rund 30 Beratungseinrichtungen sind rund 100 Mitarbeitende beschäftigt.