Welttag der sozialen Gerechtigkeit
Warum ist gesunde Ernährung eine Frage der Gerechtigkeit?
Walther: Wir haben eine wachsende Anzahl von Menschen weltweit, aber auch hier bei uns in Deutschland, die nicht ausreichend ernährt sind. Wir haben dafür in der Wissenschaft einen neuen Begriff geschaffen: Ernährungsarmut. Das ist ein wachsendes Problem.
Was bedeutet Ernährungsarmut?
Walther: Es geht um mehr als Hunger. Es geht um eine angemessene und gesunde Ernährung. Damit der Körper wachsen, sich entwickeln kann und leistungsfähig ist, braucht er eine bestimmte Menge von Nährstoffen. In Deutschland haben wir ein großes Problem des sogenannten "stillen Hungers". Also die Menschen haben nicht das Problem, dass sie nicht mit ausreichend Kalorien oder Essen versorgt werden. Vielmehr haben wir das wachsende Problem, dass Menschen – und dabei vor allem Kinder und Jugendliche – nicht mit der notwendigen Nährstoffmenge versorgt werden, um sich angemessen entwickeln zu können. Es fehlen zum Beispiel Proteine und Vitamine.
Gesundes Essen für die Schule ist keine Selbstverständlichkeit.
Welche gesundheitlichen Folgen hat Ernährungsarmut?
Walther: In Deutschland ist eine der großen Folgen von Hunger und Mangelernährung Adipositas, also starkes Übergewicht. Das entsteht unter anderem durch eine einseitige Ernährung mit billigen Lebensmitteln, die zucker- und fettreich sind. Die Folge sind eine ganze Reihe von Erkrankungen, die mit Übergewicht einhergehen, wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Gelenkerkrankungen. Wir sehen auch, dass in den Schuleingangsuntersuchungen Kinder bestimmte Fähigkeiten nicht mehr haben. Und dort kommt die Frage auf, ob das nur eine Folge von mangelnder Förderung zu Hause ist, oder ob es einen Zusammenhang zwischen Mangelernährung und Entwicklung bestimmter Fähigkeiten gibt. Dazu fehlen bislang noch Studien. Erforscht ist aber schon, dass Kinder, die zu viel Zucker zu sich nehmen und sich zu wenig bewegen, Konzentrationsschwächen haben.
Diese gesundheitlichen Probleme verursachen ja auch volkswirtschaftliche Kosten. Liegt es dann nicht auch im Interesse der Allgemeinheit, Mangelernährung zu bekämpfen?
Walther: Schlechte Gesundheit ist ein großer Armutsfaktor. Der große volkswirtschaftliche Schaden ist, dass dadurch Fach- und Arbeitskräfte verloren gehen und auf der anderen Seite das Gesundheits-, Sozial- und Wohlfahrtssystem belastet wird. Eine Studie, die in Schweden durchgeführt wurde, hat den volkswirtschaftlichen Return errechnet, wenn wir in kostenfreie Gemeinschaftsverpflegung investieren. Danach haben gesund ernährte Jugendliche später aufgrund ihrer Entwicklung und Leistungsfähigkeit in bessere Berufschancen. Aufgrund der gesünderen Ernährung hatten sie bessere Kapazitäten für Bildung und Entwicklung. Und damit hatten sie eben einen positiven Return an die Volkswirtschaft.
"Gesundheit betrifft eben auch die Psyche und das Soziale, das Miteinander", erklärt Wissenschaftlerin Kerstin Walther.
Hat Ernährungsarmut neben den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nachteilen auch soziale Folgen für die Betroffenen?
Walther: Genau. Gesundheit betrifft eben auch die Psyche und das Soziale, das Miteinander. Zur sozialen Gesundheit gehört auch, dass man über das Essen an der Gesellschaft teilhaben kann. Es gehört dazu, Essen teilen zu können. Wenn kein Geld da ist, Menschen einzuladen, werden Geburtstage nicht mehr miteinander gefeiert oder Nachbarn isolieren sich, weil man sich nicht mehr einlädt oder gemeinsam miteinander isst. Bestimmte Rituale gehen verloren.
Moerland: Das, was Frau Walther aufgezählt hat, fassen wir unter dem Begriff Soziale Teilhabe zusammen. Soziale Teilhabe und zugleich ausreichend gesunde Ernährung können sich viele Menschen nicht leisten. Man kann sich natürlich auch von Toastbrot oder Spaghetti ernähren. Aber für gesunde, frische Lebensmittel reicht es bei Menschen mit geringem Einkommen oft nicht mehr, wenn sie sich nicht in anderen Bereichen wie der sozialen Teilhabe sehr einschränken.
Diakonie RWL-Armutsexpertin Heike Moerland: "Man muss es so drastisch sagen: Menschen in Deutschland müssen hungern."
Von welchem Lebensmittel-Budget sprechen wir hier? Wieviel Geld steht zum Beispiel Empfänger*innen von Bürgergeld pro Tag für Essen zur Verfügung?
Moerland: Aktuell liegt der Regelsatz für einen Erwachsenen bei rund 6,50 Euro am Tag für Nahrungsmittel, Getränke und Genussmittel. Der Regelsatz für Kinder und Jugendliche liegt noch deutlich darunter: Für Kinder von sechs bis 13 Jahren liegt er bei 4,50 Euro, für Jugendliche bis 17 Jahre bei 5,45 Euro. Das reicht nicht für eine gesunde Ernährung. Der Wissenschaftliche Beirat des Bundestages hat hierzu Unterlagen zusammengestellt, die belegen, dass die Deckungslücke zwischen den Regelsätzen und dem, was einen gesunden Warenkorb ausmachen würde, für vier- bis sechsjährige Kinder bereits bei 18 Prozent liegt. Bei 15- bis 18-jährigen Jugendlichen, die sich in der Pubertät und im Wachstum befinden, liegt sie sogar bei 44 Prozent. Das bedeutet, Jugendliche können sich eigentlich nur an drei Tagen pro Woche angemessen ernähren. Man muss es so drastisch sagen: Menschen in Deutschland müssen hungern.
Gesundes und kostenfreies Essen in Schulen und Kitas hilft effektiv gegen Ernährungsarmut.
Wie könnte Ernährungsarmut in Deutschland entgegengewirkt werden?
Moerland: Die Minimalforderung ist, dass alle Menschen Zugang zu einer gesunden und warmen Mahlzeit am Tag haben. Dafür müssen auf jeden Fall die Regelsätze erhöht werden. Der Regelsatz im Bürgergeld für einen Erwachsenen beträgt derzeit 563 Euro monatlich. Es gibt Berechnungen, wonach er rund 750 Euro betragen müsste, dann wäre auch eine gesunde Ernährung möglich. Um niemanden auszuschließen, benötigen wir eine kostenfreie Gemeinschaftsernährung in Einrichtungen wie Schulen und Kitas.
Walther: Als Wissenschaftlerin sage ich: Wir brauchen mehr Daten. Wir wissen in Deutschland viel zu wenig darüber, was Ernährungsarmut bedeutet und welche Personen besonders betroffen sind. Ich würde gerne sagen: Wir brauchen mehr Geld für alle. Aber ich weiß auch, dass das unrealistisch ist. Deshalb brauchen wir Informationen, um zielgerichteter kluge Entscheidungen treffen zu können. Aus Sicht der Gesundheitswissenschaften würde auch ich mir größere Investitionen in Infrastruktur wünschen. Kostenfreies Gemeinschaftsessen ist dabei wirklich eine sehr starke Forderung. Dabei denke ich an alle sozialen Institutionen, also nicht nur an Kitas und Schulen, sondern auch an Krankenhäuser, an Altenpflegeheime, an Wohnheime für Menschen mit Behinderung, aber auch an Quartiere. Wir sollten zum Beispiel auch die Schulumgebung miteinbeziehen. Wenn etwa die Dönerbude attraktiver ist als die Mensa, dann hat das einen Einfluss auf Konsumentscheidungen.
Ernährung global betrachtet: Was bedeutet es für die Menschen vor Ort, Lebensmittel wie Mais für den Export produziert werden und sie selbst nicht genug zu essen haben?
Ernährungsarmut ist ja nicht nur ein deutsches Thema, sondern betrifft weltweit Millionen von Menschen, oft in weitaus drastischerem Ausmaß. Wie können wir für mehr Gerechtigkeit sorgen?
Moerland: Gesundheit kann nicht mehr nur national gedacht werden, sondern muss tatsächlich global gesehen werden. Der neue Begriff dafür ist Planetary Health Diet, also dass man tatsächlich gesunde Ernährung nicht nur für die Menschen vor Ort, sondern für den gesamten Planeten denkt. Was bedeutet es zum Beispiel für die Menschen vor Ort, wenn Produkte in großen Mengen für den Export produziert werden und ganze Landstriche nicht mehr bewirtschaftet werden, um die Bevölkerung zu ernähren? Das Recht auf angemessene Ernährung ist ein Menschenrecht. Wir müssen auch als Verbraucher dafür sorgen, dass unser Konsum nicht zum Nachteil anderer Menschen gereicht. Das gilt für uns als Diakonie auch für unsere Träger, sich darüber bewusst zu werden und viele sind schon auf diesem Weg und beispielsweise auf lokale Produkte umzusteigen.
Walther: Ich denke, dass eine Sensibilisierung für Konsummuster und Essensentscheidungen ein wichtiger Beitrag ist. Also dass wir die Verantwortung nicht nur der Politik zuweisen. Und ich habe mir in der Ausbildung von Sozialarbeitenden vorgenommen, darauf hinzuweisen, dass dieses profane Alltagsthema wirklich globale Folgen hat. Wenn wir Fachkräfte sensibilisieren, können diese vor Ort über innovative Konzepte nachdenken. Und so kann dann auch die Diakonie vielleicht als Arbeitgeberin entsprechende Rahmenbedingungen schaffen.
Das Gespräch führte Claudia Rometsch. Fotos: Shutterstock, Privat, Diakonie RWL
Soziale Hilfen
Kerstin Walther ist Professorin für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen/ Gesundheitswissenschaften am Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie bei der Evangelischen Hochschule RWL in Bochum. Heike Moerland leitet das Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration bei der Diakonie RWL.