Welttag der sozialen Gerechtigkeit
Gerechnet hat Ilse Kramer schon immer. "Das habe ich nicht anders gelernt", sagt die Rentnerin. Ihre Regeln: "Ich kaufe keine Markenprodukte – außer bei Kaffee. Tchibo-Kaffee muss es schon sein." Sie achtet auf Angebote, gönnt sich aber ab und zu frisches Fleisch. Auch bei Kleidung ist die Kölnerin nicht wählerisch: "Viele meiner T-Shirts sind über zehn Jahre alt."
Ihre Sparsamkeit hilft Ilse Kramer, mit dem Geld auszukommen, das ihr zur Verfügung steht. Denn trotz Arbeit brauchte sie immer Unterstützung vom Staat. Ihre gut bezahlte Putzstelle reichte nicht aus für den kompletten Lebensunterhalt – das Sozialamt musste ihr Gehalt aufstocken. Mittlerweile ist die 66-Jährige in Rente. Krankheitsbedingt früher als geplant, so dass auch ihre Rente allein nicht reichen würde. Auch jetzt erhält sie zusätzlich Sozialhilfe.
Nach zwei Jahren hat Sven Wirsen endlich eine eigene Wohnung gefunden.
Expertin in eigener Sache
"Ich brauche keinen Luxus in meinem Leben", betont Ilse Kramer. Aber zu besonderen Anlässen sollte auch mal ein kleines Extra drin sein: "Arm bin ich, wenn ich mir zu meinem Geburtstag noch nicht mal ein Stück Kuchen kaufen kann. Bis jetzt habe ich das immer hingekriegt." Menschen in einer ähnlichen Lage möchte sie Mut machen: "Wenn du selbst etwas tust, kannst du etwas an deiner Situation ändern." Ilse Kramer engagiert sich deshalb gemeinsam mit anderen Menschen mit Armutserfahrung. Als Expertin in eigener Sache tauscht sie sich mit anderen aus, formuliert Forderungen und spricht auch mit Politiker*innen.
Sie ist außerdem Koordinierende für NRW bei den Wohnungslosentreffen. "Vor 16 Jahren war ich wohnungslos, weil ich Stress mit dem Vermieter hatte und die Miete nicht mehr zahlen konnte", erzählt Ilse Kramer. Sie kam bei verschiedenen Bekannten unter, bis sie schließlich eine eigene, 14-Quadratmeter-kleine Wohnung fand. "Die Mieten sind so stark gestiegen, dass man heute sehr schnell wohnungslos werden kann", meint sie. "Indem ich von meinen Erfahrungen erzähle, kann ich anderen Mut machen, dass auch sie es schaffen und eine Wohnung finden können."
Die Freie Wohlfahrtspflege NRW initiierte 2018 das erste Treffen von Menschen mit Armutserfahrung im Land, mittlerweile finden die Treffen jährlich statt. Auch Ilse Kramer kommt zum Austausch: "Die Partizipation ist wichtig", betont sie. "Wenn ich mich engagiere, kann ich nicht nur meine Situation ändern, sondern auch etwas an unserem Land und an der politischen Einstellung der Menschen!"
Diakonie RWL-Armutsexpertin Heike Moerland schätzt den Austausch mit Menschen mit Armutserfahrung als Expert*innen in eigener Sache sehr.
"Gute und kreative Lösungen"
Das betont auch Diakonie RWL-Armutsexpertin Heike Moerland. "Ich erlebe die Menschen mit Armutserfahrung bei unseren gemeinsamen Gesprächen und Aktionen als sehr engagiert", so die Geschäftsfeldleitung für Berufliche und soziale Integration. Heike Moerland begleitet für die Diakonie die Treffen. "Sie haben ein gutes Gefühl für ihre Probleme und gute Lösungsvorschläge, die sie inzwischen auch in Gesprächen mit Politiker*innen einbringen konnten."
Bei einem Fachtag will die Diakonie RWL gemeinsam mit der Diakonie Deutschland und dem Evangelischen Fachverband für Arbeit und soziale Integration mit Betroffenen, Expert*innen und Fachkräften aus der sozialen Arbeit diskutieren, wie die Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung gelingen kann und welche Chancen sie bietet. "Der gemeinsame Austausch auf Augenhöhe ist wichtig", sagt Heike Moerland. "Wir müssen mit Menschen mit Armutserfahrung sprechen, nicht über sie."
Als Expert*innen in eigener Sache diskutieren die Menschen mit Armutserfahrung bei ihren Treffen aktuelle Änderungen wie das Bürgergeld und Lösungen für Probleme, die sie tagtäglich erfahren.
Forderungen an Politik und Gesellschaft
Beim Treffen der Menschen mit Armutserfahrungen im vergangenen Jahr formulierte die Gruppe Thesen und Forderungen an die Landesregierung – von Energiekosten über Zugänge zu Ämtern bis hin zu Mobilität und Maßnahmen gegen Armutsbekämpfung. "Ich finde alle Thesen wichtig", betont Ilse Kramer, die daran mitgewirkt hat. "Besonders am Herzen liegt mir, dass niemand ausgegrenzt wird. Menschen mit Armutserfahrung müssen auch am gesellschaftlichen Leben teilhaben können."
Die Forderungen erreichten auch die Landespolitik: Die Freie Wohlfahrtspflege NRW koordinierte Treffen mit den demokratischen Landtagsfraktionen. Ilse Kramer konnte zwar nicht zu den Terminen in den Landtag kommen, ist aber stolz, dass die Gruppe nun direkt mit Politiker*innen im Gespräch ist. "Die Politik sollte sich daran gewöhnen, dass wir uns äußern. Wir machen keine Eintagssachen – das ist morgen nicht vorbei", so die 66-Jährige. "Die Politik sollte uns endlich zuhören!"
Text: Jana Hofmann, Fotos: Shutterstock, Andreas Endermann/Diakonie RWL
Dokumentation nach dem 5. Treffen von Menschen mit Armutserfahrung
Soziale Hilfen
Unter der Überschrift "Beteiligung ist immer politisch!" lädt die Diakonie RWL in Kooperation mit der Diakonie Deutschland und dem Evangelischen Fachverband für Arbeit und soziale Integration e.V. zum Fachtag Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung in Diakonie und Gesellschaft als Expert*innen in eigener Sache.
Termin: Dienstag, 14. März 2023 von 10:00 bis 16:00 Uhr
Ort: Haus der Evangelischen Kirche in Bonn, Adenauerallee 37, 53113 Bonn