Welttag der sozialen Gerechtigkeit
"Deutschland ist gerechter als wir meinen" heißt ein Buchtitel des langjährigen Caritas-Präsidenten Georg Cremer. Stimmen Sie zu?
Es kommt darauf an, was man unter "gerecht" versteht. Problematisch ist, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland weiterhin zunimmt und somit Lebenschancen sehr ungleich verteilt sind. So hängt etwa die Perspektive, ob man das Abitur schaffen und vielleicht an einer Hochschule studieren wird, in hohem Maß von dem Wohnviertel ab, in dem man aufwächst. Andererseits haben wir in Deutschland eine Vielzahl von sozialen Transferleistungen, welche die Auswirkungen ungleicher Markteinkommen und ungleicher Vermögen abmildern sowie Mindeststandards der Lebensführung – über deren Ausgestaltung zu streiten ist – garantieren. Aber selbst das gilt nicht für alle Menschen in Deutschland: EU-Binnenmigrantinnen und –migranten haben gegebenenfalls nur Anrecht auf Kindergeld, sonst auf keine Sozialleistungen, wenn sie nicht in einem Erwerbsarbeitsverhältnis stehen oder standen.
Das deutsche System der sozialen Sicherung ist insgesamt nicht schlecht. Aber wo sind größere oder kleinere Gerechtigkeitslücken?
Die größte Gerechtigkeitslücke – neben der Situation vieler EU-Binnenmigranten vor allem aus Südosteuropa – besteht im Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen, insbesondere wenn sie bei nur einem Elternteil aufwachsen. Dieses Risiko ist höher als bei allen anderen Bevölkerungsgruppen. Generell leben viel zu viele Kinder und Jugendliche in Armutsverhältnissen, besonders stark ausgeprägt übrigens in NRW, im Saarland und in Sachsen-Anhalt. Die Start-Nachteile von Kindern werden gegenwärtig in den Schulen kaum oder nur sehr schwer aufgeholt, häufig verfestigt die Schule diese Nachteile sogar. Zukünftig wird auf Grund vieler unstetiger Erwerbsbiographien aus der Zeit der hohen Arbeitslosenquoten zwischen den 1980er und den frühen 2010er Jahren auch das Armutsrisiko von Rentnerinnen ansteigen. Hier wird immerhin durch die Einführung einer "Grundrente" gegengesteuert.
Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit sollten in einer guten Balance sein, meint Traugott Jähnichen. (Foto: Michel Bertolotti/pixabay)
Wie können Gerechtigkeitsdefizite in Deutschland bekämpft werden?
Es kommt darauf an, die klassische Verteilungsgerechtigkeit und die Befähigungsgerechtigkeit gut auszubalancieren. Auf Transferleistungen zu setzen, ist absolut notwendig, aber unzureichend. Es geht wesentlich auch darum, durch den Ausbau der sozialen Infrastruktur Teilhabechancen am gesellschaftlichen Leben zu eröffnen. Menschen mit Handicaps sind zum Beispiel auf gute und barrierefreie Möglichkeiten der Teilhabe angewiesen. Das ist für sie häufig ebenso wichtig wie eine angemessene Finanzierung ihrer individuellen Bedarfe.
Wie können und sollen Diakonie und Kirche dabei eine aktive Rolle spielen?
Diakonie und Kirche haben idealer Weise einen engen Kontakt zur Lebenswelt der Menschen, sei es in den diakonischen Einrichtungen und Unterstützungssystemen, sei es in den Kirchengemeinden. Insofern können sie „Experten“ für den Alltag der Menschen sein. Sie leisten dabei, eingebunden in das Sozialsystem, einen bedeutenden Beitrag zur sozialen Sicherheit. Ferner beobachten sie problematische Entwicklungen manchmal früher als es in der Öffentlichkeit kommuniziert wird. So können sie eine aktive Rolle in der Anwaltschaft für sozial Benachteiligte spielen, diese im Idealfall bei ihrer Selbstorganisation stärken. Zudem helfen sie immer wieder in Einzelfällen, wenn Menschen durch die Netze der sozialen Sicherung zu fallen drohen.
Blick über den Tellerrand: Gleiche Rechte und vergleichbare Lebenschancen gelten auch für Menschen in den armen Ländern des Südens. "Brot für die Welt" unterstützt sie. (Foto: BfdW)
Nehmen wir eine globalere Perspektive ein. Wir steigern unseren Wohlstand in den Industrieländern auf Kosten der Natur und der Menschen in den armen Ländern des Südens. Was kann ich persönlich und hier und jetzt schon für eine gerechtere Welt tun?
Unsere Lebensweise in den Wohlstandsgesellschaften ist nicht universell übertragbar und daher ethisch nicht zu rechtfertigen. Gemäß der "Goldenen Regel", wie sie Jesus in der Bergpredigt klassisch formuliert hat ("Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch"), gilt es, gleiche Rechte und vergleichbare Lebenschancen weltweit einzufordern. Aktionen der Fair-Trade-Bewegung sind wichtige Ansätze, um bestimmte Standards der Ökologie sowie der Arbeitsbedingungen und der Entlohnung in den Ländern des globalen Südens zu ermöglichen.
Die pünktliche Zahlung eines gerechten Lohnes ist schon in der Bibel Ausdruck elementarer Gerechtigkeit. In vielen Ländern des Südens wird dies nicht umgesetzt, durch Lieferketten profitieren wir faktisch davon. Das ist nicht hinnehmbar. Grundsätzlich ist die von der Bibel aufgezeigte Lebensweise davon geprägt, vom Anderen und seinen Bedürfnissen her zu denken und leben. Diese Verantwortung besteht für die Mitmenschen wie für die Natur.
Das Gespräch führte Reinhard van Spankeren.
Soziale Hilfen
Zur Person: Prof. Dr. Traugott Jähnichen ist Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Der Theologe und Wirtschaftswissenschaftler engagiert sich vielfältig in evangelisch-sozialethischen Gremien etwa der Sozialkammer der EKD. Jähnichen ist ein profunder Kenner diakonischer Entwicklungen. So hat er sich etwa schon sehr früh mit der "Ökonomisierung der sozialdiakonischen Dienste" befasst. Seit 2007 ist Jähnichen Mitherausgeber des Jahrbuchs Sozialer Protestantismus. Im März 2020 erscheint Band 12 des Jahrbuchs, das Veränderungsprozesse in Kirche und Diakonie empirisch-soziologisch und theologisch in den Blick nimmt.