30. Juli 2024

Teilhabe

Für Armut Worte finden

Rekord beim Treffen der Menschen mit Armutserfahrung: 90 Teilnehmende – so viele wie noch nie – diskutieren auf Initiative der Freien Wohlfahrtspflege NRW, wie sie ihre Lebenssituation verbessern können. Sie fordern mehr Gehör von Politik und Gesellschaft und ein Ende der Diskriminierung von Menschen, die Armut erfahren.

  • Teilnehmende diskutieren beim Treffen der Menschen mit Armutserfahrung
  • 90 Menschen mit Armutserfahrung versammelten sich in Köln, um über Verbesserungen ihrer Lebenssituation zu diskutieren.

Schon die Zahl der Teilnehmenden macht deutlich, wie groß die Not vieler Menschen ist: 90 Frauen und Männer, so viele wie noch nie, haben am siebten Treffen der Menschen mit Armutserfahrung teilgenommen. Eingeladen hatte die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen (LAG FW NRW), geplant und organisiert wurde das Treffen von den Teilnehmenden selbst. Alle lebten oder leben in Armut, viele mit körperlichen oder psychischen Behinderungen, manche sind oder waren wohnungslos. NRW-weit ist es das einzige Treffen dieser Art.

"Mir fehlen die Worte! Armut besprechbar machen" – so lautete das Motto der diesjährigen Tagung in den Räumen des Kölner Diözesan-Caritasverbandes. Michaela Hofmann koordiniert den Ausschuss Armut und Sozialberichterstattung der Freien Wohlfahrtspflege NRW und bereitete das Treffen vor. Sie erklärt: "Armut wird in der Gesellschaft zwar wahrgenommen, aber häufig werden nur Stereotype verwendet. Den Betroffen selbst fehlen Möglichkeiten und Gelegenheiten, sich zu äußern." Aber was sind die richtigen Worte? "Das wissen die Betroffenen am besten selbst", so Hofmann.

Sabrina Fanslau ist aus Bremen angereist

Sabrina Fanslau ist aus Bremen angereist. Sie tappte in die Schuldenfalle und lebt deshalb in Armut. 

Plattform für Austausch 

Das Treffen ist nicht nur eine Art Parlament derjenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen, es dient auch als Plattform – um sich etwa über neue Regelungen und Gesetze zu informieren und um mit Politik und Behörden ins Gespräch zu kommen. So nahmen etwa auch die Grünen-Landtagsabgeordnete Jule Wenzel und Vertreter*innen von Jobcentern teil.
 
Thorsten Prinz war bereits zum dritten Mal dabei. Der 54-Jährige aus Frechen ist gelernter Maurer, krankheitsbedingt aber nicht mehr erwerbsfähig. Er lebt von Bürgergeld. "Ich fühle mich von Politik und Gesellschaft übersehen und übergangen", sagt er. Er kann nicht verstehen, wie Politiker*innen selbst hohe Diäten beziehen, sich aber nicht genug für Menschen mit wenig Geld einsetzen. Prinz selbst würde gern wieder einmal in Urlaub fahren, kann es sich aber nicht leisten. Einer aktuellen Statistik zufolge kann sich nicht einmal die Hälfte aller einkommensarmen Haushalte in Deutschland einen einwöchigen Urlaub leisten. Thorsten Prinz habe, so sagt er, nicht einmal Geld für ein Deutschlandticket. 

Aus Bremen reiste Sabrina Fanslau an. Die 34-Jährige berichtet, sie habe eine "schwierige Beziehung" hinter sich: "Mein Freund konnte nicht mit Geld umgehen." Das trieb das Paar in die Insolvenz, aus der sie sich mühsam wieder herausarbeitet.

Arbeitsgruppe beim Treffen der Menschen mit Armutserfahrung.

In Arbeitsgruppen diskutierten die Teilnehmenden Schwerpunktthemen, etwa die Herausforderung, Geld für das Deutschlandticket aufzubringen, um mobil zu bleiben. 

Die richtigen Worte finden

Aber wie darüber sprechen? Wie kann man seine Notsituation plausibel machen – vor allem gegenüber der Politik? Jule Wenzel, sozialpolitische Sprecherin der Grünen im NRW-Landtag, zeigt Verständnis: Es gehe in der aktuellen Bürgergeld-Debatte um die richtigen Worte, das gelte auch für die Politik. "Vor allem die Sprache in den sozialen Netzwerken ist psychisch belastend", so Wenzel.

Auch Politiker*innen seien gefordert, ihre Sprache auf Vorurteile zu überprüfen, so Diakonie RWL-Armutsexpertin Heike Moerland, die ebenfalls an dem Treffen teilnahm. "In der aktuellen politischen Debatte werden Menschen, die Bürgergeld erhalten, herabgewertet. Politiker*innen sollten eine respektvolle Sprache verwenden." Außerdem brauche es mehr Aufklärung über die Ursachen für Armut. "Wir müssen das Thema Armut frei von Scham und Schuld machen und immer wieder deutlich machen: Das Problem liegt nicht bei den Menschen, die Armut erleben, sondern bei einer Gesellschaft, die Armut zulässt", fasst Moerland eine zentrale Forderung des Treffens zusammen. 

Neben den falschen oder fehlenden Worten für Armut kritisierten Betroffenen vor allem Einschränkungen in ihrer Mobilität. Sie forderten ein kostenloses Deutschlandticket für alle, die Bürgergeld beziehen. Ein weiteres großes Thema war die schwierige Erreichbarkeit der Jobcenter. Viel zu oft seien deren Mitarbeitende nicht oder nur online zu erreichbar. Handys oder Computer würden für eine Kontaktaufnahme vorausgesetzt, viele Betroffene besitzen derartige Geräte aber gar nicht oder sind – aufgrund von Sprachbarrieren – nicht in der Lage, eine Mail so zu formulieren, dass ihr Anliegen klar wird. "Das A und O ist die persönliche Beratung", räumte auch ein Jobcenter-Vertreter ein und versprach, sich für einen Verbesserung einzusetzen. 

Text: Pia Klinkhammer/DiCV Köln, Redaktion: Jana Hofmann, Fotos: Jo Schwartz/ DiCV Köln

Ihr/e Ansprechpartner/in
Heike Moerland
Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration
Weitere Informationen
Ein Artikel zum Thema:
Soziale Hilfen