11. September 2024

Tag der Wohnungslosen 2024

Einfach ankommen

Im Marie-Burde-Haus in Düsseldorf sollen Frauen ein neues Zuhause finden, bei denen die üblichen Angebote der Wohnungslosenhilfe nicht greifen. Mitte Juli war die Eröffnung, Ende September werden wohl alle 19 Apartments bewohnt sein. Doch die Warteliste ist jetzt schon lang.

  • Theresa Frisch, Neele Noß und Leonie Siepmann (v.l.) an der Rezeption im Marie-Burde-Haus.
  • Theresa Frisch und Stefanie Volkenandt stehen im Eingangsbereich des Marie-Burde-Hauses vor dem Graffiti.
  • Jede Bewohnerin im Marie-Burde-Haus hat einen eigenen Briefkasten.
  • Die Küchenzeile in einem Apartment im Marie-Burde-Haus.
  • Das Willkommenspaket für die Frauen im Marie-Burde-Haus mit Wimperntusche, Sonnencreme, Lipgloss und anderen Dingen.
  • Im Marie-Burde-Haus sind die Bäder modern und barrierearm ausgestattet.
  • Blick aus dem fünften Stock ins Treppenhaus: Das Haus an der Stephanienstraße wurde im Bestand renoviert und das imposante Treppenhaus erhalten.
  • Theresa Frisch, Leitung Marie-Burde-Haus, sitzt in einem der 19 Apartments.
  • Noch eine Baustelle, schon bald soll hier die Terrasse des Marie-Burde-Hauses sein.

Ihr leerer Blick geht in die Ferne. Über den Bagger hinweg, der an diesem Vormittag die Grube aushebt, wo die neue Terrasse entstehen soll. Sabine F. steht in der offenen Terrassentür, zieht nervös an ihrer Zigarette und hat keine Lust auf ein Gespräch.  Nur einmal blickt sie doch kurz zur Seite und sagt kaum hörbar: "Es ist schön hier."

Und ja: Das vollständig im Bestand renovierte Haus an der Düsseldorfer Stephanienstraße ist wirklich schön: hell, modern und einladend, 19 geräumige Wohlfühl-Apartments und ein Gemeinschaftscafé verteilt auf fünf Stockwerke, alles barrierearm, auf den Fluren und im Treppenhaus ist es ruhig, nur zwischendurch fällt mal eine Tür ins Schloss. Ähnliche Neubauten gibt es zigfach in der Landeshauptstadt. Und doch ist das Marie-Burde-Haus für seine Bewohnerinnen viel mehr: ein Ort zum Ankommen, zum Runterkommen, zum Kraft tanken und im besten Fall der Ort, um endlich Ziele zu entwickeln und ein neues Leben zu beginnen. 

Gewalterfahrungen

Obwohl einige Bewohnerinnen gerade mal volljährig und andere bereits älter als 60 sind, ähneln sich ihre Lebenswege: Gewalt in der Kindheit, Zwischenstationen im Heim, Gewalt in der Partnerschaft, Missbrauch. Irgendwann eskalierte bei allen die Situation, die Frauen liefen weg. Was dann meist folgte: ein paar Wochen auf diesem oder jenem Sofa bei Bekannten, dazwischen bei einigen ein Aufenthalt in der Psychiatrie oder in der Notschlafstelle und irgendwann die Endstation Straße. "Alle Frauen hier haben viel erlebt, manche ziehen mit ihrem Zelt bei uns ein", sagt Theresa Frisch. Für viele sei dann das größte Glück im neuen Apartment der eigene Kühlschrank.

Die Sozialarbeiterin leitet das Marie-Burde-Haus. Sie sagt: "Die Lebenswege unserer Klientinnen sind nicht nur von Gewalt geprägt, sondern auch von vielen Ortswechseln und ständigen Abbrüchen. Beständigkeit kennen die meisten hier kaum." Auch das Vertrauen in konventionelle Hilfsangebote sei den meisten über die Jahre hinweg abhandengekommen.

Theresa Frisch leitet das Marie-Burde-Haus.

Theresa Frisch hat die Erfahrung gemacht, dass vielen wohnungslosen Frauen das Vertrauen in konventionelle Hilfsangebote abhandengekommen sei.

Nur Frauen im Team

Theresa Frischs Team besteht aus elf Frauen, sechs für den Tag- und fünf für den Nachtdienst. "Ganz bewusst nur Frauen, denn die meisten unserer Klientinnen haben schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht", berichtet sie. Von diesen Gewalterfahrungen berichten, das möchten anfangs nur die wenigsten. "Eigentlich möchten die meisten nur ihre Tür zumachen und Ruhe haben."

Die Frauen brauchten Zeit, viel Zeit. "Deshalb arbeiten wir hier nach ihrem Tempo", ergänzt Stefanie Volkenandt, Abteilungsleitung Selbstbestimmung und Teilhabe bei der Diakonie Düsseldorf. Das sei ein wesentlicher Unterschied zu den Notschlafstellen. Volkenandt hat das Konzept für das Marie-Burde-Haus entwickelt und sagt: "Jetzt müssen wir abwarten, wie Theorie und Praxis übereinander passen."

Stefanie Volkenandt, Abteilungsleitung Selbstbestimmung und Teilhabe bei der Diakonie Düsseldorf.

"Wir arbeiten hier nach dem Tempo der Frauen", sagt Stefanie Volkenandt, die das Konzept des Marie-Burde-Hauses entwickelt hat. 

Ausreichend Freiraum 

Was macht das Marie-Burde-Haus besonders? "Wir sehen unser Haus als Ergänzung zu Notschlafstellen und anderen Einrichtungen, zwischen denen ein Teil der wohnungslosen Frauen oft jahrelang hin- und hertingelt, ohne festen Halt zu finden", sagt Volkenandt. Theresa Frisch ergänzt: "Oft ist ihr Alltag von Angst dominiert, denn sie sind in der Regel Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt: als wohnungs- oder obdachlose Person, als suchtkrank oder psychisch auffällig, als arm und auch als Frau." Viele Türen zu gesundheitlicher Versorgung und Existenzsicherung seien dadurch verschlossen. "Und wenn die einmal zu sind, bleiben sie es meist auch."

Im Marie-Burde-Haus soll dieser Kreislauf endlich durchbrochen werden und sollen die Frauen eine Anlaufstelle finden. Stefanie Volkenandt sagt: "Wir möchten den Frauen den Freiraum geben, den sie brauchen, um sich überhaupt auf Unterstützungsangebote einzulassen." 

Ein  Apartment im Marie-Burde-Haus.

Die 19 Apartments im Marie-Burde-Haus sind modern und hell eingerichtet.

Vertrauen aufbauen

Der Eingangsbereich im Marie-Burde-Haus mit Sesseln, Pflanzen und Briefkästen ähnelt einem Concierge-Service, wie es ihn in luxuriösen Stadthäusern oft gibt. Doch sitzt dort kein Portier, sondern eine Sozialarbeiterin, die den regelmäßigen Kontakt zu allen Bewohnerinnen hält und rund um die Uhr ansprechbar ist. "So wollen wir nach und nach Vertrauen aufbauen, bis auch Beratungsgespräche im offiziellen Rahmen möglich sind", erläutert Volkenandt das Konzept.

Jede der Frauen hat in ihrem Zimmer eine Kochnische und ein Badezimmer, um das sie sich selbstständig kümmert. Wenn die Frauen das Haus verlassen, geben sie aber ihren Schlüssel ab. "Wir möchten den Frauen ein kontinuierliches und niedrigschwelliges Beziehungs- und Kontaktangebot machen", erläutert Theresa Frisch. So lasse sich etwa bei der Schlüsselübergabe ganz beiläufig über das Wetter reden. "Solche Gespräche", so beschreibt es Stefanie Volkenandt, "können sich aber auch entwickeln und so bei den Bewohnerinnen deren über Jahre aufgebautes Misstrauen gegenüber Institutionen abbauen." 

Auch Freundschaften können hier wachsen. Zwei Bewohnerinnen haben sich beispielsweise zusammengetan und sind gemeinsam einkaufen gegangen. Andere wiederum besuchen am Wochenende das Frühstück im Gemeinschaftscafé. Manche nutzen die Infrastruktur im Marie-Burde-Haus: Das Team unterstützt etwa beim Gang zum Bürgerbüro, beim Lebenslauf schreiben oder beim Passfoto machen. Und – ganz wichtig – alle Frauen haben endlich eine Meldeadresse. Die ist beispielsweise wichtig, um Sozialleistungen beziehen zu können, ein Konto zu eröffnen oder eine Arbeit aufzunehmen. 

Das Türschild des Marie-Burde-Hauses an der Stephanienstraße in Düsseldorf.

Das Marie-Burde-Haus soll für die Frauen ein Ort sein zum Ankommen, Runterkommen und Kraft tanken.

Viel Zuversicht

Nach wenigen Wochen sei es noch zu früh für ein Fazit, sagt Theresa Frisch. Nur so viel: "Es ist sehr gut angelaufen, und erstaunlich viele Klientinnen suchen mittlerweile von selbst den Kontakt zu uns." Auch sei es zu früh, um zu sagen, ob den Bewohnerinnen im Marie-Burde-Haus tatsächlich ein Neu-Anfang gelingt. "Aber", so Frisch weiter. "Ich habe große Zuversicht, dass es alle schaffen können."

Text und Fotos: Verena Bretz

Ihr/e Ansprechpartner/in
Katrin Müller
Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration
Weitere Informationen

Düsseldorfer Nachtzählung

Am Stichtag 19.2.2023 wurden 437 Personen gezählt, die auf der Straße leben, davon 68 Frauen. Hinzu kommen 292 Personen, die in Notübernachtungsstellen untergebracht waren, davon 107 Frauen.

Das ist Marie Burde

Marie Burde war eine alleinstehende, etwas "wunderliche" Frau mit einem kleinen Einkommen, das sie überwiegend mit Lumpensammeln und dem Verkauf von Altwaren und Zeitungen erzielte. Sie war Vegetarierin, soll hochintelligent gewesen sein und mehrere Sprachen gesprochen haben. Von 1943 bis 1945 versteckte sie drei junge jüdische Männer in ihrer kleinen Kellerwohnung zwischen Zeitungsstapeln vor dem Nazi-Regime und rettete ihnen so das Leben. Einer der drei, Rolf Joseph (1929-2012), hielt ihr Andenken aufrecht. Marie Burde wurde 2012 posthum in Yad Vashem mit dem Ehrentitel Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet (vgl. weddingweiser.de/die-geschichte-von-marie-burde).