29. Juni 2023

Suchterkrankungen

Alle zwei Wochen "Füreinander da"

Im Zusammenhang mit Suchterkrankungen fällt eine Gruppe oft hinten über: Kinder suchtkranker Eltern. In einer Online-Gruppe des Blauen Kreuzes in der Evangelischen Kirche (BKE) treffen sich regelmäßig Betroffene zum Austausch. Das BKE unterstützt als Suchthilfeverband suchtkranke sowie suchtgefährdete Menschen und deren Angehörige und ist Mitglied der Diakonie RWL.

Die Gruppe sitzt beim Abendessen zusammen am Tisch.

Manchmal treffen sich die Teilnehmenden der "Füreinander da"-Gruppe auch "im echten Leben" – hier etwa zum gemeinsamen Abendessen.

"Kennt ihr das auch?" Diese Frage kommt in der Selbsthilfegruppe für Kinder suchtkranker Eltern immer wieder auf. Und obwohl sich die Teilnehmenden vor ein paar Monaten oder Jahren noch gar nicht kannten, zum Teil weit voneinander entfernt wohnen und ihre Lebenswege sich unter normalen Bedingungen nicht gekreuzt hätten, ist die Antwort doch ein einstimmiges Nicken. Oft geht es in der Selbsthilfe bei Suchterkrankungen darum, selbst loszukommen. Aufzuhören – mit dem Alkohol oder anderen Drogen und Süchten. Auch für die Partner*innen gibt es mittlerweile häufig Angebote. Doch eine Perspektive wird selten bedacht: die der Kinder.

Dabei sind die, die sich hier alle zwei Wochen in Zoom-Videokonferenzen treffen, rein vom Alter her keine Kinder mehr. An diesem Tag sind fünf von ihnen zusammengekommen. Der jüngste ist 25, die älteste 42 Jahre alt. Doch Kind bleibt man irgendwie immer. Eigentlich heißt die Gruppe "Füreinander da". Die Runde beginnt mit den sogenannten Befindlichkeiten. Nacheinander erzählen alle, wie es ihnen gerade geht, was bei ihnen so los ist. Anja* freut sich, dass sie einen freien Tag vor sich hat. Lena* ist erleichtert, weil sie ihre Klausurenphase endlich geschafft hat. Tanja* hat Stress auf der Baustelle des Hauses, das sie gerade mit ihrer Familie baut. Und Jenny* hat eine neue Wohnung in Aussicht.

Der Bildschirm zeigt die Teilnehmenden des digitalen Treffens der "Füreinander da"-Gruppe.

Unter dem Titel "mog" ("Meine Online-Gruppe") wurden die Selbsthilfegruppen des BKE zusätzlich ins Digitale verlegt. So werden mehr Leute erreicht, auch in ländlichen Regionen. 

Selbsthilfe als zentrale Säule

Es geht nicht immer nur um Situationen oder Probleme, die mit der Suchterkrankung der Eltern zu tun haben. Die Teilnehmenden tauschen sich auch über Alltägliches aus, erzählen von einem lustigen Erlebnis aus der vergangenen Woche oder witzeln, wenn mal wieder die Katze von Jenny durchs Bild läuft. Aber dann geht es immer wieder doch um die Probleme mit den Eltern – weil deren Suchterkrankung eben in viele Lebensbereiche ihrer Kinder hineinreicht. Egal, wie viel Kontakt die Söhne und Töchter, die ja selbst schon erwachsen sind, mit ihnen haben.

Lena zum Beispiel hat den Kontakt abgebrochen - dann aber doch wieder Ärger mit dem gesetzlichen Betreuer des suchtkranken Vaters. Die Probleme auf der Baustelle von Tanja hängen damit zusammen, dass der Vater Dinge mit einem Dienstleister klären wollte und das nicht vernünftig gemacht hat - "und in welchem Zustand?" Und dass Jenny überhaupt eine neue Wohnung sucht, liegt daran, dass sie so mehr Abstand zum alkoholkranken Vater gewinnen will.

Die Gruppe gibt es seit November 2017. Sie wird vom Blauen Kreuz in der Evangelischen Kirche (BKE) angeboten, einer Organisation, die es als ihren Auftrag sieht, bundesweit "von Sucht betroffene und mitbetroffene Menschen auf ihrem Weg aus krankhafter Abhängigkeit in ein gesundes, suchtfreies Leben zu begleiten". Die Selbsthilfe ist dabei eine zentrale Säule.

Digitale Treffen

Früher haben sich die Teilnehmenden noch in Präsenz getroffen, in Bergkamen. Aber schon vor der Corona-Pandemie hat das BKE versucht, unter dem Titel "mog" - also "Meine Online-Gruppe" -, die Selbsthilfegruppen zusätzlich ins Digitale zu verlegen. Weil so mehr Leute erreicht werden, auch in ländlicheren Gebieten. Es gibt mittlerweile Online-Gruppen zu Essstörungen, Alkoholsucht, Glücksspielsucht, für konsumierende Jugendliche, aber auch für Angehörige. 

Die "Füreinander da"-Runde trifft sich alle zwei Wochen, aber auch nach Bedarf: Wenn etwas vorgefallen ist, schreiben die Teilnehmenden in einer WhatsApp-Gruppe miteinander und stoßen, wenn nötig, ein zusätzliches Treffen an. 14 Personen sind in dieser Gruppe, selten kommen alle zu einem Treffen.

Einmal im Jahr gibt es zusätzlich zu den Gruppentreffen ein Seminar in Präsenz. Die Themen dafür schlagen die Teilnehmenden selbst vor. Antje Totzek, Betreuerin der Gruppe, organisiert dann Dozierende, die Workshops und Seminare halten. Meist ist das Hauptthema Abgrenzung. Nicht unbedingt physisch, sondern eher emotional. Und nicht nur von den suchterkrankten Eltern, sondern auch von negativen Kommentaren aus dem Umfeld. Etwa wenn Freunde nicht verstehen können, dass jemand den Kontakt zu den Eltern abbricht.

Antje Totzek betreut die Gruppe ehrenamtlich als "Digitale Begleiterin".

Antje Totzek betreut die Gruppe ehrenamtlich als "Digitale Begleiterin".

"Immer lieb und brav sein"

Antje Totzek betreut die Gruppe schon seit Beginn ehrenamtlich – beim BKE heißt es eigentlich nicht Betreuerin, sondern "Digitale Begleiterin". Sie ist kein Kind von suchterkrankten Eltern, hat aber selbst vor 15 Jahren mit dem Trinken aufgehört, weil sie bemerkt hat, dass es zu viel wurde. "Ich kann manchmal die Rolle der trinkenden Person mit reinbringen", sagt sie. Sie hat die Initiative für die Gruppe angestoßen, als sie 2017 eine Schülerin unterstützt hat, die Probleme mit ihrer trinkenden Mutter hatte. "Ich dachte damals, sie braucht unbedingt Kontakt zu anderen, die das selbst kennen." Denn mit den Auswirkungen, die eine Sucht eines Elternteils auf dessen Kinder hat, werde sich oft wenig auseinandergesetzt. "Das sind Themen, die meist nicht bearbeitet wurden in der Familie. Die Kinder fallen in so einer Situation hinten über", sagt Antje Totzek. Und das bleibe hängen, auch wenn die Kinder längst erwachsen geworden sind. 

Wieder so eine "Kennt ihr das auch?"-Situation. Tanja fragt: "Habt ihr auch so große Angst, Fehler zu machen?" Sie bemerkt, dass sie auch heute in vielen Situationen sehr bemüht sei, Worte so zu wählen, dass niemand sauer werden könnte. Auch Lena kennt das. "Dass man immer versucht zu deeskalieren oder eine Eskalation zu vermeiden." Jenny erinnert sich, dass sie sich oft vor den Eltern rechtfertigen musste. "Wenn ich etwas nicht perfekt gemacht habe, wurde ich mit Ignoranz bestraft." Und: "Nichts sagen, nicht auffallen, immer lieb und brav sein", das kennt auch Anja noch aus ihrer Kindheit. 

Der Laptop-Bildschirm zeigt die Teilnehmenden eines digitalen Meetings.

Die Teilnehmenden sind nicht nur gemeinsam Betroffene, die sich digital austauschen. Sie sind mittlerweile auch so etwas wie Freundinnen und Freunde

Mehr als eine Gesprächsrunde

Kinder von suchterkrankten Eltern müssen oft schon früh selbstständig sein und sich um viele Dinge selbst kümmern. Wenn mit der Sucht auch Gewalt und andere Probleme auftauchen, gewöhnen sie sich Verhaltensmuster an, mit denen sie im jeweiligen Moment überleben können. Aber diese Muster sind oft nicht gesund, vor allem nicht als Erwachsene. Obwohl es dann nicht mehr ums Überleben geht, es einfacher wird, sich abzugrenzen, etwa weil man nicht mehr unter demselben Dach wohnt, bleibt es schwierig. Oft ist das Verhältnis zum suchtkranken Elternteil später eine Frage von Nähe und Distanz, von Kontakt zulassen und Kontakt meiden und ein Pendeln zwischen Wut und Akzeptanz. 

"Wir machen keine therapeutische Arbeit, sondern sind eine Gesprächsrunde", betont Antje Totzek. "Hier geht es darum, mit dem Leben klarzukommen und schlechte Dinge auszugleichen", sagt Daniel*. Mit Freund*innen können viele nicht gut über die Probleme mit den Eltern sprechen. Da gebe es oft Vorurteile und Unverständnis. Mittlerweile hat sich aber auch in der Selbsthilfegruppe ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Mal gibt es ein gemeinsames Zoom-Frühstück, aus dem ein Präsenz-Abendessen wird. Mal fahren sie auch gemeinsam auf einen Kurztrip, zum Beispiel zum Geburtstag ihrer Gruppenleiterin Antje. 

Auch wenn es während der zwei Stunden Gespräch ernste und auch bedrückende Momente gibt, endet die Runde doch positiv. "Danke für die guten Gedankenanstöße", sagt Anja in der Abschlussrunde. "Du hast meine Aufmerksamkeit heute wieder mehr aufs Positive gelenkt", sagt Jenny in Richtung Anja. "Ich fand es spannend zu hören, wie viele Dinge uns gemeinsam beschäftigen", sagt Lena. Und auch Tanja bedankt sich für "die interessanten Blickrichtungen" der anderen.

Und obwohl das Gruppentreffen jetzt eigentlich zu Ende ist, schalten nicht alle direkt ihren Rechner aus. Jetzt geht es mit dem inoffiziellen Teil weiter. Denn die Teilnehmenden sind eben nicht nur gemeinsam Betroffene, sondern auch so etwas wie Freund*innen.

Text: Carolin Scholz, Fotos: Antje Totzek, Norbert Reh

*Namen geändert

Ihr/e Ansprechpartner/in
Verena Bretz
Stabsstelle Politik und Kommunikation
Weitere Informationen

Mitmachen

Die "Füreinander da"-Gruppe des Blauen Kreuzes ist offen für weitere Mitglieder. Kontakt zur Selbsthilfegruppe können Interessierte über Antje Totzek aufnehmen, erreichbar unter: 01577-128 03 46.