Sozialer und ökologischer Neustart
Um ein Haar hätte die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Professorin Jutta Allmendinger, Bonn gar nicht erreicht. Die Züge fuhren nicht, und auf dem Rollfeld des Berliner Flughafens hatten sich mal wieder Klimaaktivist*innen der Letzten Generation festgeklebt. "Ich habe heute viel diskutiert auf dem Flughafen", erzählt Allmendinger im Bonner Haus der Evangelischen Kirche – sie selbst sei noch unsicher, wie sie diese radikalen Protestformen bewerten solle. Die existenzielle Gefahr des Klimawandels, drängend artikuliert von der jungen Generation auf der einen Seite; rechtsstaatliche Standards auf der anderen – das sei ein derzeit nicht aufzulösendes Spannungsverhältnis.
Eingeladen von der Evangelischen Akademie im Rheinland und des Diakonischen Werkes Rheinland-Westfalen-Lippe entfaltete die renommierte Soziologin ein "aktuelles Sittengemälde der sozialen Ungleichheit in Deutschland". Ihr Vortrag bildete den Auftakt der gleichnamigen Tagung zur sozialen und ökologischen Transformation: "Klima – Arbeit – Armut – ein (un)auflösbares Dilemma?" Damit wollen die Veranstalterinnen erneut hinweisen auf die Zehn Thesen für einen sozialen und ökologischen Neustart, die federführend von der Diakonie Deutschland im Sommer dieses Jahres entwickelt und mittlerweile von mehr als 50 Bündnispartner*innen wie der Caritas, der AWO, Greenpeace, BUND, NABU und Fridays for Future unterzeichnet wurden.
Wie treffend der erste Satz dieser Thesen ist - "Ökologische und soziale Fragen lassen sich nicht trennen" - und wie massiv sich die Ungleichheit in den vergangenen Jahren in Deutschland in allen sozialen Bereichen verschärft hat, zeigte Jutta Allmendinger anhand von zahlreichen Studien in ihren sechs Strängen der Ungleichheit auf.
Studien zeigen: Ein Drittel aller Kinder beherrscht am Ende der vierten Klasse die Rechtschreibung nicht richtig.
1. Bildung – das System in Deutschland ist ungerecht
Ja, sagt die Wissenschaftlerin, wir haben eine positive Entwicklung der Bildung seit den 1950er-Jahren. Hätten damals etwa fünf Prozent eines Jahrgangs das Abitur erreicht, seien es heute rund 40 Prozent. Aber: "Die Spreizung zwischen der Spitze der sehr guten Abschlüsse und der vielen Jugendlichen, die keinen Abschluss oder nur einen Hauptschulabschluss haben, nimmt zu. Ich finde, dass darüber zu wenig gesprochen wird", so Allmendinger. Bildungsarm sei, wer nicht im umfassenden Sinne an der Gesellschaft partizipieren könne, also mit Büchern, Reizen in der Natur, Musikschule und Sportvereinen. Das deutsche Bildungssystem sei überhaupt nicht durchlässig, der Bildungserfolg hänge nach wie vor viel zu stark davon ab, wie wohlhabend die eigenen Eltern seien – Tendenz steigend. Aller Forschung und glasklarer Datenlage seit 20 Jahren zum Trotz. "Es geht nicht um die eigene Leistung, dieses Narrativ ist wirklich falsch. Es geht um individuelle Förderung."
Dieser Trend habe sich durch zweieinhalb Jahre Corona massiv verschärft, das würden die jüngsten Studien deutlich zeigen. "Arme Kinder hatten keine digitalen Endgeräte, keinen ruhigen Arbeitsplatz in ihrem Zuhause und oftmals konnten ihre Eltern beim Unterrichtsstoff nicht helfen. Das ist beängstigend!" Ein Drittel aller Kinder beherrsche am Ende der vierten Klasse die Rechtschreibung nicht richtig; jedes fünfte Kind könne weder richtig lesen noch gut zuhören. Ähnlich alarmierend seien die Zahlen in Mathematik. Apropos Zahlen…
Die soziale Ungleichheit zwischen jenen mit den höchsten Einkommen und jenen mit den geringsten werde größer, sagt Professorin Jutta Allmendinger.
2. Einkommen – wer hat, dem wird gegeben
Die Grafiken, die Jutta Allmendinger zur zweiten sozialen Kategorie, der Einkommensverteilung in Deutschland, an die Wand wirft, ähneln jenen der Bildungsraten auf erschreckende Art und Weise. "Insgesamt nehmen die Einkommen zu. Aber die soziale Ungleichheit zwischen jenen mit den höchsten Einkommen und jenen mit den geringsten, wird größer."
Beispiel: In einem relativen Vergleich ist das verfügbare Haushaltseinkommen der reichsten zehn Prozent in Deutschland seit 1995 auf 150 Prozent gestiegen. Das Haushaltseinkommen der ärmsten zehn Prozent jedoch nur marginal um fünf Prozent. Die Enden dieser beiden Kurven liegen im Schaubild von Jutta Allmendinger im Jahr 2020 weit auseinander. Zunehmende Ungleichheit aber sei eine Gefahr für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft. Das weiß die vergleichende Sozialforschung aus Studien in anderen Ländern. Und: "Eine Arbeit zu haben, schützt in unserem Land nicht mehr vor Armut. Das Modell, dass nur eine Person im Haushalt das Geld für die ganze Familie verdient, trägt für die meisten Menschen schon lange nicht mehr. Menschen mit geringer Bildung sind viel eher in der Gefahr, zu verarmen."
Das System unserer Erbschaftssteuer sei ungerecht. "Das hat mit Leistung nichts zu tun, wenn ich einfach nur viel erbe", sagt Jutta Allmendinger.
3. Vermögen – gleich und gleich gesellt sich gern
Logische Folge und zugleich Katalysator dieser Befunde sind die Ergebnisse zur Vermögensverteilung in Deutschland. In den vergangenen zehn Jahren hat die wohlhabendere Hälfte der deutschen Bevölkerung ihr Vermögen deutlich steigern können, während die ärmere Hälfte teilweise mit rückläufigen Vermögen zurechtkommen muss. Die reichsten zehn Prozent hätten auch in Deutschland deutlich mehr als die Hälfte aller Vermögen auf sich vereint. Hinzukommt: Das Vermögen bleibt gern unter sich, auch die gesellschaftlichen Schichten werden zunehmend undurchlässiger. Um das zu illustrieren, erzählt Jutta Allmendinger von einer aktuellen Studie zu Social Media.
Auf Dating-Portalen wie Parship oder Tinder bekämen Menschen mit hohen Vermögen mehr Klicks, Likes und Matches als ärmere Menschen. Und das, obwohl alle in der Lage seien, vernünftige Fotos von sich zu machen und diese vorteilhaft zu bearbeiten. Die Wohlhabenderen haben dann auf dem Partner*innen-Markt größere Wahlmöglichkeiten. "Das System unserer Erbschaftssteuer ist auch hier ungerecht. Das hat mit Leistung nichts zu tun, wenn ich einfach nur viel erbe", so Allmendinger.
Der Staat unterstütze diejenigen Kinder, die in prekären Verhältnissen leben, viel zu wenig, kritisiert Jutta Allmendinger.
4. Gesundheit – arm geboren, arm gelebt, arm gestorben
Die Studien zum Zusammenhang zwischen Reichtum und Gesundheit sowie der Lebenserwartung sind Legion und hinreichend bekannt. Wohlhabende Senioren leben länger und profitieren somit länger von Zahlungen aus den Pensions- und Rentenkasse. Das Argument, dass sie Zeit ihres Berufslebens ja auch mehr eingezahlt haben, trage Allmendinger zufolge nicht, denn: "Die Einzahlungen amortisieren sich viel schneller als bei armen Rentner*innen." Der Staat unterstütze diejenigen Kinder, die in prekären Verhältnissen leben, viel zu wenig. "Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem sozialen Status und der Prägung in der frühen Kindheit, zum Beispiel, ob die Mutter während der Schwangerschaft geraucht hat, ob das Kind gestillt wurde und ob alle kinderärztlichen Untersuchungen gemacht wurden. In Deutschland machen wir präventiv zu wenig und reparieren zu viel." Kinder würden nicht ausreichend geschützt und unterstützt. Im Ergebnis nehme die Ungleichheit weiter zu.
Vieles von dem, was Jutta Allmendinger an diesem Abend präsentiert, kennt man aus den Nachrichten. Ihre große Stärke ist es, diese sich wechselnd befeuernden Dynamiken miteinander in einen Zusammenhang zu setzen. Das gilt auch beim Thema Wohnen.
Um die soziale Ungleichheit auf dem Wohnungsmarkt zu messen, gucken Soziolog*innen, wie viel Geld des Monatseinkommens für die Warmmiete aufgebracht werden muss.
5. Wohnen – wie viel Geld bleibt nach der Miete?
Wer wohlhabend ist, besitzt in der Regel Eigentum in Deutschland. Um die soziale Ungleichheit auf dem Wohnungsmarkt zu messen, gucken Soziolog*innen, wie viel Geld des Monatseinkommens für die Warmmiete aufgebracht werden muss. Im Ergebnis belasten angespannte Wohnungsmärkte mit zu wenigen Sozialwohnungen ärmere Menschen deutlich stärker als wohlhabendere.
Vor zwei Jahren, also noch vor den derzeit sehr hohen Energiekosten, mussten armutsgefährdete Menschen in Deutschland fast 60 Prozent ihres Einkommens für das Dach überm Kopf ausgeben. Bei der nicht-armutsgefährdeten Bevölkerung sind es nur knapp 24 Prozent. "Das ist für mich eine der bezeichnendsten Erkenntnisse überhaupt, wenn wir über soziale Ungleichheit in Deutschland sprechen", so Allmendinger. Übrigens: Die Zahl der Sozialwohnungen hat sich in Deutschland von 2006 bis heute auf rund eine Million halbiert…
Jutta Allmendinger sagt: "Wir können den Klimawandel nur dann sinnvoll bekämpfen, wenn wir soziale Gerechtigkeit herstellen."
6. Klimagerechtigkeit – Ökologie und Soziales gehören zusammen
Nimmt man alle diese Befunde zusammen, bleiben viele offene Fragen und etwas Ratlosigkeit. Leben wir in einer a-sozialen Gesellschaft? Hat unsere repräsentative Demokratie die Kraft für nachhaltige Veränderungen in den sozialen und ökologischen Fragen? Jutta Allmendinger ist hier ganz klar: "Wir können den Klimawandel nur dann sinnvoll bekämpfen, wenn wir soziale Gerechtigkeit herstellen. Wenn wir es schaffen, keinen Menschen zurückzulassen. Denn diejenigen, die wir zurücklassen, können ganz sicher nicht Treiber der ökologischen Transformation sein."
Sie, die aktuell den Papst zu sozialwissenschaftlichen Fragen und die sieben führenden Industrienationen der Welt (G7-Staaten) zu Geschlechtergerechtigkeit berät, wünscht sich eine fachübergreifende Allianz für eine progressive Anti-Armutspolitik. Diese müsse als Querschnittsthema begriffen werden und in so vielen Staaten der Erde wie möglich gelingen.
Moderatorin Heike Moerland von der Diakonie RWL (li.) im Gespräch mit der Wissenschaftlerin Jutta Allmendinger.
Angeregte Diskussion
Zum Abschluss der angeregten Diskussion fragt Moderatorin Heike Moerland danach, ob sich die Kirchen und Sozialverbände in der bisherigen Krise so laut eingemischt hätten, dass das auch im politischen Berlin gehört würde? Angesichts der aktuellen Herausforderungen, so die Professorin, seien gut vernehmbare Kirchen wichtig. "Aus meiner Perspektive haben sie einen wichtigen Auftrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land. Ich bin überzeugt: Wenn sie den erfüllen, bleiben sie auch relevant."
Noch während Allmendinger spricht, ploppt die Nachricht aus Berlin auf: Bund und Länder haben sich auf das Deutschlandticket für den öffentlichen Nahverkehr geeinigt. 49 Euro pro Person und Monat, Bund und Länder wollen sich die Milliarden-Kosten hälftig teilen. Eine Hoffnung in dieser Zeit? Der Starttermin ist noch unklar – ebenso wie die Antwort auf die Frage, ob es ein Sozialticket für diejenigen Millionen Menschen geben wird, die sich auch diese 49 Euro nicht leisten können.
Text: Franz Werfel, Fotos: Evangelische Akademie im Rheinland, David Ausserhofer/Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Bretz, Pixabay, Shutterstock
Soziale Hilfen
Zur Person
Professorin Dr. h.c. Jutta Allmendinger, Ph.D. ist seit 2007 Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.