21. Februar 2024

Sozialer Arbeitsmarkt

Hier ist Inklusion selbstverständlich

Bio und inklusiv: Die VIA Integration zeigt, wie sozial gerechte Landwirtschaft funktioniert. Das Aachener Inklusionsunternehmen ermöglicht Langzeitarbeitslosen, wieder in den Job einzusteigen. In dem Betrieb unter dem Dach der Diakonie arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung Hand in Hand – auf allen Ebenen.

  • Gärtner-Geselle Jakree Dao-Khao erntet Radieschen
  • Mitglieder aus dem Anbau-Team auf Gut Hebscheid.
  • Der Hofladen auf Gut Hebscheid
  • Jakree Dao-Khao erntet Radieschen
  • Einblick in den Hofladen auf Gut Hebscheid.
  • Im Hofladen wird unter anderem Ingwer verkauft.
  • Das mittelalterliche Gut Hebscheid in Aachen.

Zwei Reihen Löcher schneiden, Folie weiterdrehen, nächste Reihe: Christian Walter steht im Gewächshaus an seinem selbst gebauten Folie-Schneide-Gerät. Das ist seine pfiffige Konstruktion auf zwei Spulen, dank der er die Folie, die Pflanzen vor Unkraut und Schädlingen schützt, bequem im Stehen zurechtschneiden kann statt hockend oder gebückt auf dem Boden. "Gerade bereite ich die Folie für die Kürbisse vor", erklärt der 35-Jährige, der als Umschüler eine verkürzte Ausbildung zum Gemüsegärtner absolviert.

Kreative Lösungen finden, darin ist das Team der VIA Integration Weltmeister: Ausrangierte gelbe Stadionsitze aus dem Aachener Tivoli haben Kolleg*innen zu Hockern umgebaut, die auf Schienen fahren und die Gartenarbeit im Sitzen ermöglichen. Auch für die Beschäftigten hat das Inklusionsunternehmen viele Ideen, wie sie gut arbeiten können, sagt Kirsten Ehrenberg. Die Gärtnermeisterin ist stellvertretende Leiterin des Bio-Gemüseanbaus auf Gut Hebscheid, dem mittelalterlichen Hof an der deutsch-belgischen Grenze mit Gewächshaus, Landwirtschaft und Veranstaltungsorten. 

"Wir haben viele kreative Köpfe und sind gut darin, gute Maßnahmen zu entwickeln", so Ehrenberg. "Wir brauchen aber Geld, um unsere Projekte umzusetzen. Viele Menschen könnten arbeiten, sind aber stattdessen arbeitslos. Die Jobcenter haben zu wenig Geld für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Die Folgekosten von Arbeitslosigkeit sind viel höher als die Kosten für unsere Maßnahmen."

Ersoy Vatan im Gewächshaus.

Lieblingsjob Durchziehen: "Unkrautmanager" Ersoy Vatan zieht die Harke durch das Feld.

Lieblingspflanze Tomate

Wie in dem Fall des "Unkrautmanagers" Ersoy Vatan, dessen von der Agentur für Arbeit geförderte Maßnahme regulär nach fünf Jahren Ende April ausläuft. "Wir hätten ihn gerne weiter beschäftigt, können es uns aber nicht leisten", erklärt Ehrenberg. Der 44-Jährige kam 2016 als Ein-Euro-Jobber auf das Gut, anschließend wurde seine Stelle über das Teilhabechancengesetz gefördert. "Ich habe hier viel gelernt", berichtet Ersoy Vatan, der noch nicht weiß, wie es für ihn ab Mai weitergeht. "Ich liebe es, mit den Händen zu arbeiten. Aber mein Lieblingsjob ist das Durchziehen." Dabei zieht er die Harke durch das Feld und lockert den Boden auf. Er freut sich schon, wenn er für die Tomaten den Boden vorbereiten kann: "Unsere Tomaten sind meine Lieblingspflanzen."

30 verschiedene Sorten wachsen auf Gut Hebscheid und werden von den Mitarbeitenden gehegt und gepflegt. Auch im Verkauf ist die Pflanze der Kassenschlager: ob als Jungpflanze für den eigenen Balkon oder Garten oder als reifes Fruchtgemüse im Bioladen oder Hofverkauf. "Die Leute sind total verrückt nach unseren Tomaten", erzählt Gärtnermeisterin Ehrenberg. Ganze 8.000 Kilo Tomaten verkaufte das Team im vorigen Jahr, von der Cocktail- bis zur Fleischtomate. "Und das war ein schlechtes Jahr für uns, weil wir wenig Sonne hatten", sagt Ehrenberg. Wie ihr Anbau-Team fiebert sie der ersten eigenen Tomaten-Ernte in diesem Jahr entgegen: "Ich kaufe im Winter keine Tomaten mehr. Wenn man einmal unsere Tomaten gegessen hat, will man nichts anderes mehr." Mitte März werden die Tomaten im Gewächshaus gepflanzt, die dann gut zehn Meter hoch werden.

Christian Walter an dem selbst gebauten Folie-Schneide-Gerät.

Christian Walter schneidet mit seinem selbst gebauten Folie-Schneide-Gerät eine Folie zurecht, die Kürbisse vor Schädlingen schützt.

"Bio sollte bezahlbarer sein"

Auch Christian Walter, der Azubi mit der pfiffigen Folie-Schneide-Konstruktion, freut sich auf die Tomaten. Seit Juli macht er seine verkürzte Ausbildung bei dem Inklusionsunternehmen. Vorher hatte er typische Bürojobs, hat Veranstaltungen organisiert. "Ich wollte gerne etwas Praktisches machen", erzählt er. "Ich bin im Grünen aufgewachsen und wollte mit Lebensmitteln arbeiten. Dabei waren mir die Produktionsbedingungen wichtig. Es sollte also ein Bio-Hof sein." Er bedauert, dass ökologische Lebensmittel für viele Menschen nicht bezahlbar sind. "Das muss sich gesellschaftlich ändern", fordert er.

Bio, das ist nicht nur für die Menschen gut, die das Obst und Gemüse zu sich nehmen, sondern auch für diejenigen, die ihnen beim Wachsen helfen und sie ernten. Sie sind zum Beispiel keinen giftigen Insektenschutzmitteln ausgesetzt. Gärtner-Geselle Jakree Dao-Khao erklärt: "Es geht nicht nur um die Pflanzen, sondern auch um die Menschen. Das Wohlergehen der Mitarbeitenden hat bei uns Vorrang." Der 35-Jährige half schon als Kind in Thailand im Garten aus und hat auf Gut Hebscheid seinen Traumjob gefunden. "Ich fühle mich hier mit meinen Kollegen und mit der Arbeit sehr wohl. Wir arbeiten ohne Druck, auch in der Erntezeit: Wir machen, was wir schaffen."

Gerechte Landwirtschaft gestalten

Das ist in der Landwirtschaft eher unüblich, erklärt Ehrenberg: "Normale Betriebe stellen Saisonarbeitskräfte ein, die dann unter teils furchtbaren Bedingungen arbeiten und leben. Das möchten wir nicht. Wir machen bei der Ausbeutung von Menschen nicht mit." Die VIA Integration bezahlt ihre Beschäftigten das ganze Jahr über. In den Wintermonaten feiert das Team die Überstunden aus der arbeitsreicheren Saison ab. "Kein Mensch kann ohne Lebensmittel leben. Wir sollten die Menschen, die sie herstellen, gut behandeln", fordert die Gärtnermeisterin.

"Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass jeder überall die Chance hat, dabei zu sein", meint Ehrenberg. "Ob in Arbeit oder Freizeit – jeder sollte die Möglichkeit haben, das zu tun, was er liebt, unabhängig davon, ob er eine Einschränkung hat oder nicht." In ihrem Arbeitsleben erlebt sie diese Gerechtigkeit: In dem gesamten Inklusionsunternehmen, zu dem auch Gastronomiebetriebe und weitere Bereiche gehören, hat jeder zweite Angestellte eine Behinderung.

Kirsten Ehrenberg vor dem mittelalterlichen Gut Hebscheid

An der frischen Luft und mit den Händen zu arbeiten ist heilsam, sagt Gärtnermeisterin Kirsten Ehrenberg. 

Inklusion auf allen Ebenen

"Bei uns arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen Hand in Hand – auf allen Ebenen", so die 37-Jährige. "Inklusion sollte selbstverständlich sein." Die stellvertretende Leitung hat selbst einen längeren Klinikaufenthalt hinter sich, machte eine Reha. Sie startete 2008 ihren beruflichen Werdegang auf Gut Hebscheid, absolvierte nach einer Eingliederung eine Ausbildung und anschließend den Meister. "Inklusion bedeutet für uns, dass auf jeder Ebene Menschen mit Behinderung arbeiten."

Viele der Kolleg*innen haben eine psychische Krankheit. Die Gärtnerarbeit tut ihnen gut, erzählt Ehrenberg: "Draußen an der frischen Luft zu arbeiten und dabei etwas Existenzielles zu tun, ist heilsam. Gerade für Menschen mit psychischen Krankheiten ist das wichtig." Und was passiert, wenn jemand kurzfristig in der Erntezeit ausfällt? "Jeder springt für jeden ein und wir helfen gerne aus", sagt Ehrenberg. "Wir müssen alle gut aufeinander aufpassen." Die typische deutsche Arbeitsmentalität gebe es aber auch auf Gut Hebscheid: "Manche wollen ihre Kollegen nicht im Stich lassen oder eine Aufgabe beenden und schleppen sich krank zur Arbeit. Wir sind dabei sehr sensibel und unterstützen uns gegenseitig."

Damit die VIA Integration weiter Menschen unterstützen kann, ist das Sozialunternehmen auf staatliche Hilfe angewiesen. Die Bundesregierung hat ihre arbeitsmarktpolitischen Förderungen zusammengekürzt. "Es fehlt Geld, um neue Maßnahmen auf den Weg zu bringen", sagt Ehrenberg. "Es fehlen insbesondere Programme für Menschen, die noch keinen Grad der Behinderung haben." Angesichts der Einsparungen blickt die Gärtnermeisterin besorgt in die Zukunft. "Wir haben aber den festen Glauben, dass wir das durchstehen – und dass es weiterhin Menschen gibt, die uns mit Spenden unterstützen."

Text und Fotos: Jana Hofmann

Ihr/e Ansprechpartner/in
Heike Moerland
Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration
Weitere Informationen

Der Bio-Anbau auf Gut Hebscheid ist Teil des Aachener Inklusionsunternehmen VIA Integration, welches der WABe-Gruppe angehört. Dachverband ist das Diakonische Netzwerk Aachen. Die VIA Integration besteht neben dem Bio-Anbau aus einer Gastronomie, einem Bio-Verkauf und den Alemannia-Fanshops. Das Sozialunternehmen hat insgesamt 70 Beschäftigte, von denen 31 eine anerkannte Schwerbehinderung haben und über den Landesverband Rheinland (LVR) gefördert werden. 41 Stellen werden von der Agentur für Arbeit gefördert, darunter Arbeitsgelegenheiten für langzeitarbeitslose Menschen und Beschäftigte nach dem Teilhabechancengesetz (Paragraf 16i SGB II).